Das Parlament Nicht erst seit der Fußball-WM hat ein Wort Konjunktur: Patriotismus. Kann ein Muslim ein deutscher Patriot sein?
Ayyub Axel Köhler Ganz sicher. Wir haben eine verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland, die uns anhält, eine Wertegemeinschaft der unterschiedlichsten Gruppen der Gesellschaft zu bilden und zusammenzuhalten, ohne dass der Staat sich anmaßen darf, dem Volk Werte zu diktieren. Staat und Religion sind getrennt, aber beide Bereiche kooperieren, denn der Staat lebt nun mal von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Das ist das Gegenstück zum Laizismus und etwas typisch Deutsches, auf das wir stolz sein dürfen: Ein ideales Beispiel für die globalisierte Welt. Und es ist die Freiheit für die Entwicklung des Einzelnen, die Meinungs- und Pressefreiheit, die ich über alle Maßen schätze. Schon deshalb: Ich bin ein Verfassungspatriot!
Das Parlament Reicht es, Verfassungspatriot zu sein oder muss man auch mit Gefühl für dieses Land eintreten?
Ayyub Axel Köhler Natürlich darf man die emotionale Komponente nicht ignorieren. Auch für Muslime ist Beheimatung, ist Heimat wichtig. Natürlich: Islam vermittelt Heimatlichkeit, wo immer sich ein Muslim aufhält. Das heißt aber nicht, dass sie nicht auch einen Ort sesshafter Heimat haben. Das stellen wir bei der zweiten oder dritten Generation von Muslimen fest: Deutschland und besonders die Stadt oder die Gegend, in der sie aufgewachsen sind, ist ihre Heimat. Ja, es kann sogar soweit gehen, dass sie sich in der ursprünglichen Heimat ihrer Eltern und Großeltern weniger wohl fühlen als beispielsweise in Deutschland. Die Liebe, die sie für ihre jeweilige Heimat empfinden, hängt für Muslime allerdings immer damit zusammen, inwieweit sie ihren Glauben leben können und von der Mehrheitsgesellschaft als gleichwertig respektiert werden.
Das Parlament Können Sie mit dem Begriff "Leitkultur" etwas anfangen?
Ayyub Axel Köhler Dass über Kultur geredet wird, darüber sollte man erfreut sein; Kultur und Kulturpolitik kommen hierzulande immer zu kurz. Aber ich bin gegen einen eng gefassten, kleinbürgerlichen, ja spießbürgerlichen Leitkultur-Begriff, der jeder Integration zuwiderläuft, weil er auf einen Assimilationssog setzt. Ich frage Sie: Gibt es denn angesichts der Verschiedenheit der deutschen Stämme und Landschaften überhaupt eine Einheitskultur in Deutschland? Ist es die süddeutsche, ostdeutsche oder norddeutsche Kultur? Die friesische, die bayerische oder die preußische? Bitte, vergessen wir nicht, was wir beispielsweise den Juden an Kultur verdanken! Deutschland ist nun mal ein Produkt von Vielfalt. In Carl Zuckmayers "Teufels General" ist das wundervoll beschrieben. Wir brauchen deshalb eine Debatte über die Kluft zwischen Selbsteinschätzung und der gelebten Wirklichkeit in Deutschland.
Das Parlament Und von dieser Debatte versprechen Sie sich...
Ayyub Axel Köhler ... dass die Einsicht zunimmt, dass Kultur niemals starr, sondern immer dynamisch ist. Kulturen entwickeln sich. Sie benötigen dazu Impulse von außen. Das gilt auch für die Wertediskussion in einer pluralistischen Gesellschaft. Verpflichtend ist der Rahmen, den das Grundgesetz in Buchstaben und Geist vorgibt. Das deutsche Haus bietet viel Platz für Vielfalt. Deutschland bedarf ihrer heute mehr denn je. Eine Politik des kulturellen Artenschutzes führt in die kulturelle Wüste. Die Konsequenz daraus: Die Politik ist gefordert, die Vielfalt zu fördern, weil Vielfalt Kultur am Leben erhält und auch Deutschland Potenziale für Zukunftsoptionen erschließt. Unser Land, in dem die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, aus denen ich die Religionsgemeinschaften besonders hervorhebe, wäre dann ein Vorbild für eine Welt, die sich leider in gefährlicher Weise zu polarisieren beginnt. Die deutsche Kultur sollte eine Kultur des Miteinanders in der Vielfalt sein.
Das Parlament Auf einen Satz gebracht: Die Leitkulturdebatte, wie sie bisher geführt wurde, empfinden Sie als kontraproduktiv?
Ayyub Axel Köhler Weil viele Muslime den Eindruck haben, dass diese Debatte aus einer Position der Schwäche heraus geführt wird, dass aus der Not der deutschen Identitäts- und Wertekrise auch noch eine Tugend gemacht werden soll. Die Diskussion über die Leitkultur hat unter den Selbstgerechten und Selbstherrlichen falsche Hoffnungen geweckt. Negativdefinitionen oder Positionierungen gegen Andere sind das Gegenteil einer weisen Integrationspolitik, die sich am Paradigma des selbstbewussten Umgangs mit der Differenz orientiert.
Das Parlament Steckt die Integration in der Sackgasse?
Ayyub Axel Köhler Nicht die seitens der Migranten; die müssen sich arrangieren, und die tun das auch. Die Integration von Staats wegen ist in einer Sackgasse. Es fehlt an einer konsistenten Politik. Was sollen all die "Integrationsgipfel", wenn die staatlichen Veranstalter der Ansicht sind, Integration und Glaubenshintergrund seien von einander zu trennen? Und man sollte ferner anerkennen, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern auch eine Lebensweise ist: ein Leben mit Gott und eine Zuflucht in Gott. Diese Lebensweise muss man nicht teilen - wie auch wir Muslime mit mancher Lebensweise anderer nicht einverstanden sind -, aber man sollte sie respektieren. Aber vielleicht will man die Muslime auch gar nicht so integrieren, wie sie sind.
Das Parlament Ein wichtiger Aspekt der Integration betrifft das Erlernen der deutschen Sprache. Ist da in der Vergangenheit nicht viel versäumt worden?
Ayyub Axel Köhler Selbstverständlich ist das Erlernen der deutschen Sprache eine notwendige Voraussetzung für die Integration. Sie greift aber zu kurz, wenn es sich dabei nur um ein Kommunikationsmittel und eine verwertbare Fähigkeit handelt. Sprache ist auch Heimat. Sprache als gemeinsames Denken schafft Kulturen des Geistes und führt über die Kultur hinaus. Besonders die Mehrsprachigkeit öffnet Fenster zu anderen Kulturen. Menschen, die dann das Verständnis von zunächst oder scheinbar fremden Kulturen in sich tragen, sind kulturelles Kapital. So wird kulturelle Kompetenz geschaffen, die wir in einer globalisierten Welt so nötig haben. Diese Kompetenz sollte über die Kultur- beziehungsweise Schulpolitik vermehrt werden.
Das Parlament Das ist jetzt die Staatsebene, über die wir reden. Was sollte im Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften geschehen, damit ein friedliches Zusammenleben möglich ist?
Ayyub Axel Köhler Wir brauchen einen neuen Religionsfrieden.
Das Parlament Warum das?
Ayyub Axel Köhler Weil alle Vereinbarungen über religiöse Toleranz, über die es Dokumente gibt, in Amerika und bei uns, nur die Toleranz unter Christen betreffen. An die anderen Religionen hat man damals noch nicht gedacht.
Das Parlament Gibt es aber nicht auch eine Art Bringschuld der Muslime, müssen sie sich nicht weiter entwickeln, wenn sie in der von Ihnen geschilderten Gesellschaft der Vielfalt und Freiheit ankommen sollen?
Ayyub Axel Köhler Die Entwicklung der Muslime ist im beiderseitigen Interesse notwendig. Es geht um die Entwicklung der Muslime selbst und die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Religion und ihrer Ausstrahlungskraft auf Europa und besonders auf die islamische Welt. Dann sind die Muslime auch in der Lage, einen umfassenden Beitrag für die europäische Gesellschaft und die Kultur zu leisten. Argwohn den Muslimen gegenüber, die drückende Last eines Generalverdachts, eine staatsfeindliche und/oder terroristische Gruppe zu sein, engen die Möglichkeiten der Entwicklung ein. Es ist mein ständiges Credo: Freiheit ist eine Voraussetzung für Entwicklung.
Das Interview führte Gernot Facius.