Ich weiß jetzt viel über die deutsche Geschichte, zum Beispiel über die Bedeutung des 9. Novembers", sagt Gönül Acikavak zufrieden. Der Integrationskurs für Migranten an der Volkshochschule in Berlin-Wedding liegt einige Wochen zurück. Aber sie ist sich sicher: Er hat ihr sehr geholfen. Endlich könne sie die Nachrichtensendungen verstehen. Sie weiß nun, welche Bundesländer es gibt und was das Grundgesetz ist. Und wenn von Überschwemmungen an der Donau die Rede ist, hat sie eine geografische Vorstellung. "Endlich kann ich auch all meine Behördengänge alleine erledigen." Der Integrationskurs als Befreiung aus einem Kokon - so zumindest hört es sich an, wenn Gönül Acikavac erzählt. Die gelernte Verkäuferin lebt seit 14 Jahren in Berlin.
Die Vorkämpfer für ein modernes Zuwanderungsgesetz, das nach jahrelangen Diskussionen im Januar 2005 in Kraft trat, können sich bei solchen Aussagen bestätigt fühlen. Nachdem Integration jahrzehntelang als Selbstläufer betrachtet wurde, erkannte die Gesellschaft den Trugschluss: Das Nebeneinander von Dönerbude und deutscher Bäckerei hatte mit Integration nichts zu tun. Das Schlagwort von der Parallelgesellschaft, in die sich Einwanderer und ihre Kinder und Enkel zurückziehen, wurde zum Schreckgespenst. Auch Gönül Acikavak arbeitete zehn Jahre in einem türkischen Laden. "In dieser Zeit musste ich kein Wort deutsch sprechen", sagt sie.
Nun wurden zum ersten Mal Integrationsmaßnahmen für Ausländer gesetzlich geregelt mit dem Ziel, sie soweit mit den hiesigen Lebensverhältnissen vertraut zu machen, dass sie ohne Hilfe Dritter zurechtkommen können. Die Integrationskurse, ein Kernelement des Gesetzes, sind ein erster Schritt dorthin. Sie bestehen aus 600 Stunden Sprachunterricht und einem anschließenden 30-stündigen Orientierungskurs. Hier lernen die durchschnittlich 15 Teilnehmer pro Kurs, natürlich auf Deutsch, Geschichte und politische Grundlagen der Bundesrepublik kennen. "Wir gehen zum Beispiel immer in den Reichstag oder den Bundesrat", erzählt Michael Henke, der Kursleiter von Gönül Acikavac.
Zielgruppe sind nicht nur Menschen, die seit 2005 in die Bundesrepublik einwanderten. Auch Ausländer, die schon länger hier leben, können beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg eine Teilnahmeberechtigung beantragen. Einzige Vo-raussetzung: "Integrationsbedürftigkeit". Das heißt vor allem: fehlende Deutschkenntnisse. Wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht selber verdienen und die Sprachbarriere offensichtlich ein Grund dafür ist, können sie übrigens von den Ausländerbehörden auch zur Teilnahme verpflichtet werden. ",Verpflichtet' heißt aber nicht gleich ,gegen den Willen'", betont Michael Weiß, Programmbereichsleiter für Deutsch als Zweitsprache an der Volkshochschule im Wedding. Die Schule ist einer von bundesweit mehr als 2.000 privaten und öffentlichen Trägern, denen das BAMF bis Ende 2005 eine Zulassung zur Durchführung der Kurse erteilt hat. Die übergroße Mehrheit sei froh über das Angebot gewesen, so Weiß. Kein Wunder, denn es erleichtert einiges: Wer einen Integrationskurs erfolgreich beendet, erwirbt schon nach sieben anstatt der üblichen acht Jahre Aufenthalt einen Anspruch auf Einbürgerung. Die schwierigste Hürde hat er dann zwar noch vor sich: Ein Arbeitsplatz ist zentrale Bedingung für eine Einbürgerung, neben Sprachbeherrschung und Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Aber die Aussicht darauf ist nach dem Kurs natürlich größer als vorher. "Ich hoffe, dass ich bei der Handelskammer eine Weiterbildung machen kann", sagt Gönül Aciakavac, die seit mehr als einem Jahr Arbeit sucht.
Im vergangenen Jahr haben 115.000 Menschen an den Kursen teilgenommen. Fast die Hälfte (47 Prozent) lebte schon länger in Deutschland und hatte einen Antrag beim BAMF gestellt haben. Dies zeige den besonderen Integrationswillen und den großen Integrationsbedarf, schreibt das BAMF in seiner Jahresbilanz für 2005. "Einer der größten Wünsche der Teilnehmer ist der nach Kontakten zu Deutschen", bestätigt Michael Henke das Bild aus der Praxis. Das alles klingt nicht nach einer Verweigerungshaltung zur deutschen Gesellschaft.
Die Migranten wollen ankommen in Deutschland: Ein besonderes Beispiel dafür lieferte zu Beginn des Jahres der Streit um die Deutschpflicht auf dem Gelände der Berliner Herbert-Hoover-Realschule. Während vor allem Grünen-Politiker und Migrantenverbände von "Zwangsgermanisierung" sprachen, hatten die Migrantenkinder (90 Prozent der Schüler) ihre eigene Sicht der Dinge. Sie verteidigten selbstbewusst ihr Recht auf die deutsche Sprache als Chance auf einen Arbeitsplatz.
Aber die Migranten sind auch schon angekommen. Erst kürzlich veröffentlichte die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung Ergebnisse einer Befragung türkischstämmiger, Kopftuch tragender Frauen und stellt fest: "Es gibt keinen Anlass, ihnen fundamentalistische Einstellungen zu unterstellen." Mit einem fragwürdigen Demokratieverständnis habe das Tragen eines Kopftuches nichts zu tun. Auch beanspruche die große Mehrheit eine gleichberechtigte Position neben dem Mann und sehe in der eigenen beruflichen Entwicklung ein wichtiges Lebensziel.
Migrantenkinder, die das Lernen der Sprache gegen Deutsche verteidigen? Verschleierte Frauen mit einem modernen Demokratie- und Rollenverständnis? Die Überraschung der Öffentlichkeit war groß und zeigt, wie wenig die Mehrheitsgesellschaft von den Minderheiten tatsächlich weiß. Und es zeigt auch: All die Diskussionen der vergangenen Jahre um Integration und Einbürgerung haben viel mit dem Bedürfnis der deutschen Gesellschaft nach Selbstvergewisserung zu tun.
Eine Vergewisserung unter anderen Vorzeichen - "Menschen mit Migrationsgintergrund" machen laut Mikrozensus 2005 des Statistischen Bundesamtes mittlerweile 19 Prozent der Bevölkerung aus. Die Menschen in Deutschland sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) brachte die Realität nach der ersten Deutschen Islamkonferenz am 27. September auf den Punkt: "Der Islam ist ein Teil Deutschlands." Ungefähr 3,5 Millionen Muslime leben in diesem Land, meist schon viele Jahre. Sie stellen die größte Gruppe der Zugewanderten.
Zwischen dem Wunsch dazuzugehören und der individuell empfundenen Zugehörigkeit liegen oft jedoch Welten. Deshalb fragte Schäuble auch: "Wie können wir dahin kommen, dass möglichst viele Muslime sich als deutsche Muslime fühlen können?" Einen solches Gefühl entsteht nicht automatisch durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft. Zum Beispiel fühlten sich nur 49 Prozent der befragten Frauen mit deutschem Pass emotional mit Deutschland verbunden, so die Studie der Adenauer-Stiftung. Viele gaben an, sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Aiman A. Mazyek, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), dagegen sagt: "Ein deutscher Muslim ist jemand, der kulturell hier verankert ist und seinen Lebensmittelpunkt hier hat." Eine eindeutige Antwort gibt es wohl nicht.
An der Volkshochschule im Wedding hat man auch eine Idee von Integration. "Sprachkenntnisse sind schön und gut. Aber ohne Arbeit sind sie nur die halbe Miete", sagt Michael Weiß. Entscheidend seien soziale Kontakte, die das Deutschsprechen ermöglichen. "Integrationsmotor ist die Arbeit. Wir schieben das Auto nur an, fahren muss es selber." Die Suche nach "der" richtigen Integrationsstrategie steht erst am Anfang.
Die Autorin gehört der Redaktion "Das Parlament" an.