Im Herbst des Jahres 1972 plakatierten die Sozialdemokraten ein Porträt Willy Brandts mit der Unterschrift "Deutsche, Ihr könnt stolz sein auf Euer Land". Im April zuvor hatte der sozialdemokratische Bundeskanzler das konstruktive Misstrauensvotum des Christdemokraten Rainer Barzel mit der denkbar knappsten Mehrheit überstanden. Kurz vor Beginn des Wahlkampfs, der am 19. November zum bisher größten Wahlsieg der SPD führte, waren die Olympischen Sommerspiele in München zu Ende gegangen. Ein Großereignis, vergleichbar mit der gerade hinter uns liegenden Fußballweltmeisterschaft. Nur mit einem schrecklichen Verbrechen belastet: das Attentat auf die israelische Mannschaft im olympischen Dorf mit dem tödlichen Finale auf dem Militärflughafen in Fürstenfeldbruck wurde - das zeigt der Rückblick in Filmen und Büchern nach nun mehr als 30 Jahren - nur oberflächlich verarbeitet und schnell verdrängt. Irgendwie schwer vorstellbar heute, dass nach dem Versagen auch deutscher Dienste, Polizisten und Politiker nur wenige Wochen später ein solcher Satz auf Billigung gestoßen wäre.
November 1989 in Berlin. Willy Brandt kommentierte den Fall der Mauer mit dem zum historischen Zitat gewordenen Satz: "Jetzt muss zusammenwachsen, was zusammengehört." Jetzt hätte man sich deutschen Jubel auch auf sozialdemokratischen Plakaten vorstellen können. Aber Brandts Freude über die deutsche Einheit teilten längst nicht alle in der SPD. Besonders nicht Oskar Lafontaine, der 1990 als erster gesamtdeutscher Kanzlerkandidat die Wahl verlor. Sein Porträtplakat damals war farblich wie textlich ohne jeden Bezug zu Deutschland und seiner jüngsten Geschichte. Auf kühlem Blau stand unter seinem Namen der Slogan "Der neue Weg", das SPD-Logo versprach "Sichere Arbeitsplätze. Saubere Luft. Eine starke Wirtschaft."
Mai 2002 in der Bundeshauptstadt Berlin. Im Vorwahlkampf trifft sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Martin Walser zu einem Schlagabtausch zum Thema "Nation, Patriotismus und demokratische Kultur". In einer mit großer Sorgfalt und Umsicht vorbereiteten Rede wirbt Schröder, sich an Dolf Sternbergers Begriff des "Verfassungspatriotismus" anlehnend, für einen "freiheitlichen Patriotismus" innerhalb einer "demokratischen Nation". Nationen seien weniger "Abstammungsgemeinschaften" als vielmehr "Abstimmungsgemeinschaften". Weil die Menschen nicht in eine nationale "Schicksalsgenossenschaft" (Walser) mit einer kollektiven Identität hineingeboren werden, müssen sie sich auf Gemeinsamkeiten verständigen. "Als bloße Hülse taugt die ,Nation' dabei so wenig wie die ,Kultur'. Gemeinsamkeit der Menschen entsteht aus gemeinsamen Interessen und gemeinsam geteilten Werten. Teilhabe und Solidarität sind die Werte des Gemeinsinns; Nation und Kultur sind die Orte, an denen diese Werte verwirklicht werden können. Wenn man es umgekehrt macht, wenn man die Orte vor die Werte setzt, dann entsteht Ausgrenzung." Dem Kanzler selbst war aber klar, dass gelebter Patriotismus mehr als eine Kopfgeburt ist: "Aber, Hand aus Herz: Wenn die deutsche Nationalelf Fußball spielt, dann drücke ich den Deutschen nicht deshalb die Daumen, weil wir so ein wunderbares Grundgesetz haben."
Sommer 2006. Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland ist ein riesiges, mit den deutschen Farben geschmücktes Fest. Die nationale Hochstimmung wird "publizistisch" begleitet durch Titel wie "Das Beste an Deutschland. 250 Gründe, unser Land heute zu lieben" oder "Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können". Deutschland vereint im Fußballglück, Klinsmann eine Projektionsfigur deutscher Träume. Schröder hat Recht, Fußball und Feiern bilden eine Alternative zum politischen Leben und bedeuten für viele eine kleine Flucht aus den Widrigkeiten des Alltags heraus. Es ist 2006 für viele schlicht und einfach "geil", wie wohl man sich in Deutschland fühlen kann!
Umso bemerkenswerter, dass im sozialdemokratischen Diskurs der Begriff des Patriotismus jenseits des bisher umrissenen Umfeldes guter Gefühle ab und an mahnend eingesetzt wird. Etwa wenn Sigmar Gabriel im Streit um Hartz IV Ende 2004 die Wohlhabenden in unserer Gesellschaft zur Opferbereitschaft aufruft: "Die Menschen wollen sehen, dass es nicht immer nur gegen Rentner, Arbeitslose und gegen Kranke geht, sondern dass alle mitmachen bei den Veränderungen. Für mich wäre das sozialer Patriotismus." Unternehmer, die trotz großer Gewinne kräftig Stellen abbauen, hat Michael Sommer, DGB-Chef und Sozialdemokrat, im Sommer dieses Jahres als "vaterlandslose Gesellen" beschimpft.
Der Patriotismus, der hier von den Reichen dieses Landes eingefordert oder bei ihnen vermisst wird, hat nichts mit Wohlgefühl, Stolz, Lust oder Euphorie zu tun. Er gehört vielmehr in das Feld von Werten, die Matthias Platzeck noch als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Beginn dieses Jahres beschwor: "Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung sollten in Deutschland wieder mehr Einzug halten", generell sprach er sich "für eine Rückbesinnung auf positive preußische Tugenden in Politik und Gesellschaft" aus. In einem der vielen politischen Internetforen findet sich ein Artikel ",Vaterlandslose Gesellen' oder ,Das Kapital kennt keine Grenzen und keinen Patriotismus'". Der Autor setzt hinter seinen Beitrag ein vielsagendes PS: "Einst waren ,vaterlandslose Gesellen', ein Wort von Kaiser Wilhelm, die Sozialdemokraten im deutschen Kaiserreich und stolz ob solcher Schmähung. Wie sich die Zeiten ändern!"
In der 2005 erschienenen Habilitationsschrift "Patriotismus in Deutschland" von Volker Kronenberg hat der jüngst gestorbene sozialdemokratische Vordenker Peter Glotz eine nüchterne Perspektive skizziert. Im Zeitalter der Globalisierung gebe es zwei Bewegungsströme, den der Flüchtlinge und den der weltweit umherreisenden "globalen Elite". Den ersteren werde der Patriotismus ausgetrieben. Und bei einer wirtschaftlichen oder technischen Führungskraft, aber auch bei einem international anerkannten Künstler, der "in der lingua franca Englisch verkehrt und viel mit dem Flugzeug unterwegs ist, muss man sich natürlich fragen, was sein ,Patriotismus' noch bedeutet".
Sozialdemokratie und Patriotismus heute? Je weniger dominierende Spitzenfiguren das Bild der Partei prägen und der Blick auf Mitglieder und Wähler ein buntes Mosaik divergierender Milieus ergibt, desto stärker geht die Frage ins Leere. Wie man sich als Deutscher in Deutschland fühlt, das ist heute sehr individuell durch Familie, Freunde, kulturelle Prägungen und die berufliche und soziale Situation bestimmt. Werteinstellungen sind kaum noch politischen Präferenzen zuzuordnen.
Der Autor leitet die Kurt-Schumacher-Akademie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel.