Es war nicht die Rede eines Bundespräsidenten oder ein ernstes politisches Ereignis - nein, Spiele lieferten den Anstoß für ein neues deutsches Selbstgefühl. Die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land wurde zur Bühne für einen "fröhlichen Patriotismus" der Deutschen; selbst ausländische Beobachter lobten den entspannten Enthusiasmus, mit dem die Bevölkerung ihre Nationalmannschaft von Erfolg zu Erfolg trieb. Schwarz-Rot-Gold galt plötzlich als cool und zwar bis in aufgeklärt-abgeklärte Milieus, die von ihren patriotischen Empfindungen selbst überrascht wurden. Insbesondere für junge Leute ist die Nation neuerdings eine zusätzlichen Facette der eigenen Identität: Man ist je nach Bedarf Lokalpatriot, Europäer, Kosmopolit und deutscher Patriot - oder alles zugleich.
Für viele Grüne war dieses patriotische coming out der Republik durchaus irritierend. Mehr als andere Parteien definieren sie sich kosmopolitisch und internationalistisch. Weder in ihrem neuen Grundsatzprogramm noch auf dem jüngsten "Zukunftskongress" spielte die Patriotismus-Debatte eine Rolle. Dennoch hat es auch bei den Grünen Bewegung in dieser Frage gegeben. Waren sie 1989/90 vor allem deshalb mehr als reserviert gegenüber der ‚Wiedervereinigung', weil sie einen Rückfall des vereinigten Deutschland in die tradierte Großmachtpolitik fürchteten, haben sie sich inzwischen von dieser Art historischem Fatalismus gelöst. Nirgendwo wurde das deutlicher als in der Außenpolitik. Joschka Fischer brachte diese Entkrampfung auf den Punkt, als er verkündete, er treibe nicht grüne, sondern deutsche Außenpolitik - was eine Vorstellung von "deutschen Interessen" voraussetzt.
Was ist Patriotismus? Die Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet ihn als eine "besondere Wertschätzung der Traditionen, der kulturellen und historischen Werte und Leistungen des eigenen Volkes". In einem negativen Sinne könne "Patriotismus zu nationaler Arroganz, Chauvinismus und übersteigertem Nationalismus führen". Bereits hier zeigt sich das Grundproblem, Patriotismus von seinen sekundären Momenten wie Stolz und Ehre zu scheiden, welche - wie wir Deutschen besonders gut wissen - anfällig für nationale Überheblichkeit, narzisstische Kränkungen und aggressive Abgrenzung gegen Fremde sind. Ein demokratisches Verständnis von Patriotismus steht deshalb immer vor der Aufgabe, das gemeinschaftsstiftende "Wir" der Nation mit der pluralistischen und multikulturellen Verfasstheit unserer Gesellschaft in Einklang zu bringen.
Der von Dolf Sternberger geprägte und von Jürgen Habermas aufgegriffene Begriff des Verfassungspatriotismus zielte in diese Richtung. In seinem Zentrum stehen nicht nationale Größe und Kultur, sondern die politische Nation, die sich um demokratische Werte und Tugenden bildet. Die Identifikation der Bürger mit den Institutionen der demokratischen Republik, ihre aktive Teilhabe an der "res publica" soll der modernen Einwanderungsgesellschaft ein belastbares Fundament geben und ihre Einheit in der Vielfalt sichern. Zu dieser Nation gehört man nicht qua Abstammung, sondern durch Zustimmung zu ihren Werten und Teilnahme an ihren öffentlichen Angelegenheiten. Kollektive Vorstellungen von gemeinsamer Abstammung und Schicksal sind im demokratischen Republikanismus keine leitenden Ideen mehr, sondern allein die verfassungsmäßig verbürgte Würde und das Engagement jedes Einzelnen. Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt, auf den sich die Grünen in dieser Frage einigen könnten, dann ist es dieser "politische Patriotismus", der an das Projekt der demokratischen Republik gekoppelt ist.
Freilich braucht auch ein solchermaßen geläuterter Verfassungspatriotismus seine "großen Erzählungen". Auch er ist nicht geschichtslos. Als negative Erzählung bleibt der Holocaust untrennbar mit dem verbunden, was Deutschland ausmacht - auf dem "nie wieder" gründet sich der Verfassungskonsens der Bundesrepublik. Aber es gibt auch eine andere Vorgeschichte, auf die sich das demokratische und europäische Deutschland beziehen kann: Die Reformation gehört ebenso dazu wie die Revolutionen von 1848, 1918 und 1989. Diese Geschichte muss ebenso in unseren Schulen erzählt werden wie die Geschichte des Nationalsozialismus, um den Sinn für Freiheit und Menschenwürde immer neu zu wecken.
Ob es einen demokratischen, mit der Moderne zu vereinbarenden Patriotismus gibt, entscheidet sich nicht zuletzt an seinem Verhältnis zur Einwanderungsgesellschaft. Das neue, von Rot-Grün durchgesetzte Staatsbürgerschaftsrecht markiert eine Zäsur im Selbstverständnis der Deutschen als Nation, die sich nicht mehr qua Abstammung, Kultur und Religion definiert, sondern als politische Gemeinschaft ihrer Bürger. Aber statt die Fiktion einer kulturell homogenen Nation endlich hinter sich zu lassen, führen konservative Politiker und Publizisten mit dem fiktiven Begriff der "deutschen Leitkultur" den Kulturkampf weiter. Das geht frontal gegen die liberale Verfassung unseres Gemeinwesens. Denn eine hegemoniale Nationalkultur kann es im liberalen Rechtsstaat nicht geben. Für alle verbindlich sind lediglich die demokratischen Normen und Regeln.
Die demokratische Rechtsordnung zielt nicht auf eine Einheitskultur, sondern soll gerade umgekehrt kulturelle und religiöse Vielfalt ermöglichen. Dass Pluralismus nicht Beliebigkeit bedeutet, müssen die Verfechter der multikulturellen Republik nicht immer wieder beteuern. Allerdings hat es auch in dieser Debatte in den vergangenen Jahren grüne Akzentverschiebungen gegeben: Integration wird heute selbstverständlicher als Prozess verstanden, in dem aus Immigranten deutsche Staatsbürger werden, die sich auf dieses Land, seine Sprache und politische Kultur einlassen.
Woher kommt der Eifer, mit dem Publizisten und Politiker aus dem konservativen Spektrum den "neuen Patriotismus" beschwören? Liegt dahinter die Vorstellung, es brauche einen Ersatz für die nachlassende Integrationskraft des Sozialstaats? So verstanden, wäre Patriotismus tatsächlich in erster Linie eine emotionale Krücke für die Unzulänglichkeit der Politik, sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Doch der Aufruf zum Patriotismus will ja mehr: nämlich das Eigene gegenüber dem Anderen stärken. Darin zeigt sich sein Pferdefuß. Ein nationales "Wir", das Zugehörigkeit herstellt, indem es Andere ausschließt, taugt nicht als Identifikationsmuster für eine weltoffene Gesellschaft. Zumindest in Europa hat die Nation auch ihre Rolle als politischer Souverän weitgehend eingebüßt. Die "deutsche Einheit" ist bereits Geschichte. Jetzt geht es um die Vereinigten Staaten von Europa. Die Nationen werden sich darin nicht auflösen wie Würfelzucker in einem Glas Wasser, aber sie werden nicht mehr der zentrale Fixpunkt politischer und kultureller Identität sein.
Wichtiger als die Wiederbelebung patriotischer Gesinnung ist die Frage der sozialen und politischen Teilhabe aller. Was unser Land voranbringt, ist nicht mehr Nationalstolz, sondern mehr lebendige Demokratie. Aus einer demokratischen Alltagskultur mag auch ein neues, ziviles Nationalgefühl entstehen, das nicht mehr zwischen Chauvinismus ("Deutschland, Deutschland über alles") und Selbsthass ("Nie wieder Deutschland") irrlichtert.
Der Autor ist Vorstand der den Grünen nahe stehenden Heinrich Böll Stiftung.