Für viele war Schwarz-Rot-Gold nur schick, aber es war mehr als nur Party", glaubt der Bonner Politikwissenschaftler Volker Kronenberg. Der Patriotismusexperte sieht in der WM-Euphorie auch eine Chance zu mehr "aufgeklärtem Patriotismus", der schon per definitionem weltoffen sei und ohne den ein moderner Nationalstaat nicht leben könne. "One-world hat keine Fahne und keine Hymne", sagt Kronenberg. "Das ist für den einzelnen viel zu abstrakt." Die Demoskopen scheinen dem Experten Recht zu geben. 58 Prozent der unter 30-Jährigen haben laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach von Mitte August während der Weltmeisterschaft eine deutsche Fahne oder andere Objekte mit den Nationalfarben getragen. "Die Fahnen wurden als Zeichen eines angenehmen, fröhlichen Patriotismus empfunden." Drei Viertel der Bevölkerung, so die Umfrage, lieben Deutschland. Zwei Drittel sind stolz, Deutscher zu sein. Vor allem bei den Jüngeren begründet sich dieser Stolz auch darin, wie sich das Land bei der WM präsentiert hat.
Nationalgefühl, sagen die Meinungsforscher, ist also kein "historisches Auslaufmodell". 74 Prozent der Befragten glauben vielmehr, dass auch im vereinten Europa die Nation die wichtigste "Identifikationsebene" bleibt, eine These, die nach Auffassung von Klaus Boehncke, Professor für Soziologie an der Internationalen Universität Bremen, jedoch umstritten ist. "Die heutige Jugend identifiziert sich weniger mit kleinen nationalen Einheiten." Die Hinwendung zu nur einer Nation, betont der Experte, sei eigentlich nicht mehr zeitgemäß. Gerade der Fußball gebe zwar nationale Symbole wie Fahnen und Nationalhymnen vor. "Aber, wenn man genauer hinguckt - zum Beispiel auf das französische Team - ist das Ganze doch eher zu einer multikulturellen Veranstaltung geworden".
So war die WM-Hochstimmung in Boehnckes Augen vor allem Kompensation. In den vergangenen acht bis zehn Jahren habe Deutschland - etwa in der Bildungs- und Wirtschaftspolitik - als das ewige Schlusslicht gegolten. "Jetzt hatten die Menschen Freude daran, dass Deutschland in einem positiven Kontext diskutiert wurde. Der Frust war zerschlagen wie ein gordischer Knoten", analysiert der Soziologe, der den WM-Freudentaumel eher als "punktuelles Phänomen" sieht.
Vorbild für ein gelungenes Zusammenleben verschiedener Nationen ist für den Wissenschaftler Kanada. "Hier können Migranten ihre Herkunftsländer ehren und sich gleichzeitig unter dem Ahornblatt versammeln." Kulturelle Besonderheiten von Einwanderern würden in Kanada gezielt staatlich unterstützt. In Deutschland hingegen beobachtet Boehncke noch immer einen starken Assimilationsdruck, auch wenn er einräumt, dass sich auch hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten der Horizont vom eigenen Land weg hin zu anderen Nationen erweitert hat.
"Die Hauptsache", betont Boehncke, "ist alltäglich funktionierender Kontakt zwischen verschiedenen Nationen" über das bunte Neben-und Miteinander zu WM-Zeiten hinausgehend. Diesem Ansatz folgen in Deutschland mittlerweile eine Vielzahl von Vereinen, Institutionen, Stiftungen und Initiativen, die sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einsetzen und Erziehung zu Toleranz in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. "Patriotismus, der auch Toleranz beinhaltet", hat sich nach Meinung von Gerd Pflaumer im Sommer gezeigt. "Rechte und Hooligans", sagt der stellvertretende Vorsitzende des Vereins Aktion Courage, "hatten keine Chance." Auch Pflaumer lobt ein ausgesprochen positives Deutschlandbild im Ausland, verhehlt jedoch auch Tiefschläge nicht - gerade im Verhältnis zwischen Deutschen und Muslimen. "Seit dem 11. September hat sich die Stimmung permanent zurück entwickelt."
Der Verein, der 1992 im Gefolge der Lichterketten entstanden ist, versucht die Idee eines alltäglichen Miteinanders in ganz unterschiedliche Stellen der Gesellschaft zu tragen - von Haftanstalten über Altersheime bis hin zu Schulen und Betrieben. "Auch die Wirtschaft muss Toleranzerziehung ernst nehmen", erklärt Pflaumer. Die Botschaft scheint gerade in großen Unternehmen angekommen zu sein. "Diversity", im Deutschen am ehesten mit dem Begriff "Vielfalt" zu umschreiben, lautet das neue Zauberwort, das nicht nur Mitarbeiter mit Migrationshintergrund umfasst, sondern auch Chancengleichheit etwa für Frauen oder behinderte Menschen. So hat die Deutsche Telekom Gleichstellung und Chancengleichheit bereits vor sechs Jahren im Tarifvertrag festgeschrieben. 2001 folgte eine Konzernbetriebsvereinbarung.
"Wir fragen: Wer ist der Mensch, der vor uns steht?", beschreibt die Leiterin des Bereichs Diversity im Konzern, Maud Pagel, die Philosophie. Diversity bedeutet für sie mehr als nur Führungskräfte auf andere Kulturen, Männer, Frauen, Junge, Alte und Religionen aufmerksam zu machen oder Workshops zu konzipieren. Sie möchte Chancengleichheit nachhaltig in alle Projekte und Maßnahmen implementieren: "Es muss in den Alltag übergehen." Schließlich, betont Pagel, seien auch die Telekom-Kunden vielfältig. So gibt es bei der Telekom Callcenter, in denen englisch, russisch und türkisch gesprochen wird. Ein T-Punkt in Berlin-Kreuzberg, so riet Pagel schon vor längerer Zeit, muss zum Beispiel türkisch sprechende Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter haben. Dies wurde auch sehr erfolgreich umgesetzt.
Die Maßnahmen scheinen auf der Hand zu liegen, sind aber längst noch nicht selbstverständlich. Diese Erfahrung macht auch Sylvia Kreis immer wieder. Sie leitet eine Kindertagesstätte im Frankfurter Gallusviertel. Von 80 Kindern im Kindergarten kommen 55 aus Migrantenfamilien. Die Erzieherin stellte fest, dass sie mit ihren herkömmlichen Methoden zum einen keine angemessene Sprachförderung in der normalen Kindergartenzeit garantieren konnte und sich zum anderen die Elternarbeit extrem schwierig gestaltete. Beide Gründe waren für Kreis ausschlaggebend, sich für "Frühstart" zu bewerben. Das Projekt, an dem unter anderem die Herbert-Quandt-Stiftung und die Türkisch-Deutsche-Gesundheitsstiftung beteiligt sind, fördert noch bis Dezember dieses Jahres zwölf Kindertagesstätten in den Bereichen Sprache, interkulturelle Erziehung und Elternarbeit.
Eine entscheidende Projektsäule sind für Kreis die 30 ehrenamtlichen "Elternbegleiter", die zum Beispiel über Migrantenvereine oder Ausländerbeauftragte rekrutiert werden und an Elternnachmittagen oder bei schwierigen Elterngesprächen übersetzen und moderieren können. "Es geht oft auch um atmosphärische Dinge", erklärt die Kita-Leiterin, sei es, dass Erzieherinnen muslimischen Eltern zum Zuckerfest gratulieren oder sich bei der Planung des nächsten Ausflugs vor Augen halten, dass deutsche Pünktlichkeit in anderen Kulturen auf der Werteskala eben nicht ganz oben steht. "Die Stimmung verhärtet sich leicht, wenn man nichts voneinander erfährt", sagt Kreis.
Dialog und Information stehen auch im Mittelpunkt der Integrationsarbeit, die an der Offenbacher Rudolf-Koch-Schule (RKS) mit viel Elan auch außerhalb der Unterrichtszeiten geleistet wird. Das Gymnasium gehört seit zwei Jahren zu den rund 300 Schulen aus 16 Bundesländern, denen der Verein Aktion Courage das Gütesiegel "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" verliehen hat. "Hier sind Menschen, die nicht weggucken", solle der Titel vermitteln, erklärt die Projektleiterin des Vereins, Sanem Kleff. Allein in diesem Jahr stellten RKS-Schüler und -Lehrer drei Projekte gegen Rassismus und für Integration auf die Beine. Eines beschäftigte sich natürlich auch mit dem Ereignis des Jahres. Unter dem Motto "Die Welt zu Hause in der Rudolf-Koch-Schule" widmeten sich Elftklässler dem Thema "Rassismus im Fußball" und präsentierten nicht nur Plakate über rassistische Vorfälle in Fußballstadien, sondern auch eine Galerie mit Menschen aus allen 32 Teilnehmerländern, die wochenlang die Pausenhalle zierte. "Nicht überinterpretieren" möchte die Pädagogin Kleff den deutschen Fußballsommer. Aber allein die Zusammensetzung des deutschen Teams zeige doch mit Spielern wie Miroslav Klose, Oliver Neuville, Gerald Asamoah oder David Odonkor eine ganz neue Vielfalt. "Die deutsche Gesellschaft akzeptiert das und belohnt sie dafür", sagt Kleff. "Das ist die entscheidende Botschaft dieser WM und sie ist bei allen Menschen mit Migrationshintergrund richtig angekommen."
Die Autorin ist Journalistin in Wiesbaden.