Wir bekommen es immer wieder gesagt, also muss es wohl stimmen: Da draußen in der weiten Welt pfeift der kalte Wind der Globalisierung - und er pfeift um jede Ecke. Globalisiert präsentieren sich die Unternehmen, die in Indien billig produzieren, in Deutschland teuer verkaufen und ihre Gewinne Gott weiß wo anlegen. Globalisiert agieren die Terroristen, die in deutschen Zügen Koffer abstellen, im Libanon gefasst werden und wahrscheinlich im Irak ihre Ausbildung bekamen. Wahre Künstler in Sachen Globalisierung sind nicht zuletzt die Fußballer. Michael Ballack schießt in England Tore oder daneben, redet auf Deutsch auch manchmal Unsinn und wird weltweit verehrt. In dieser unübersichtlichen, entgrenzten Situation gilt es, sich Nischen zu schaffen - Orte, an denen das Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit geradezu zelebriert werden kann. Orte, an denen der Wind sich legt.
Vieles spricht dafür, dass diese Orte massenhaft, in guter Laune und vor allem aus freien Stücken - also ohne oder mit nur geringem Zutun der Institutionen aufgesucht werden. Man sollte sich durch den Zuspruch des Kölner Weltjugendtags vor gut einem Jahr nicht dazu verleiten lassen, eine Renaissance des offiziellen Katholizismus zu proklamieren: Die Kirchen sind nach diesem Ereignis so leer wie sie es davor waren. Vielmehr scheint hier das autogene, das selbst gesteuerte Motiv wirksam gewesen zu sein, aus dem Alltag auszusteigen und mit Gleichgesinnten oder besser: mit gleich fühlenden Mitmenschen eine Party zu feiern. Kein Dogma, keine Ideologie, kein Glaube bildet wirklich das Fundament, auf dem getanzt wird - einigend wirkt vielmehr das, was man ex negativo gemeinsam nicht will, nämlich den Modernisierungsstress der Globalisierung.
Im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft und im Zeichen dieser Gemeinschaftsprozesse kam es in diesem Sommer zu einem Phänomen, das auf den ersten Blick sämtliche Medientheorien auf den Kopf stellte. Ausgerechnet das Fernsehen, ausgerechnet diese Maschine, die vielen als Technikdämon der Vereinzelung und der Segmentierung der Gesellschaft gilt, avancierte zum Medium, das soziale Wärme stiftete. "Public Viewing" wurde die Gewohnheit in Ermangelung eines treffenderen deutschen Ausdrucks getauft, die Fußballspiele auf Großleinwänden an öffentlichen Plätzen zu verfolgen - umgeben, natürlich, von zahllosen anderen Zuschauern. Auch in vielen Kneipen ließ sich "öffentlich gucken".
Mehrere Aspekte kommen im "Public Viewing" zusammen. Zum einen verschafft es die bereits beschriebene Nähe-Erfahrung, die der Genuss eines Ereignisses den Gleichfühlenden verschafft - im Falle der Fußball-Weltmeisterschaft dürfte sich diese Erfahrung zu emotionaler Erregung noch gesteigert haben: Wie lässt es sich besser feiern oder leiden als mit Mitfühlenden? Zwar waren mitunter auch Alkohol und Gewalt im Spiel, insgesamt aber dürfte das "Public Viewing" eher einen pazifizierenden Effekt auf die Zuschauer gehabt haben.
Darüber hinaus aber besaß es soziale und stadtplanerische Komponenten. Das "Public Viewing" entprivatisierte die so genannte Privatsphäre, es setzte Verhaltensweisen und Reaktionen dem öffentlichen Auge aus, die sonst in der Schutzzone der heimischen vier Wände verbleiben und allenfalls mit Verwandten oder Freunden geteilt werden. Ein wenig erinnerten die Areale mit ihren Leinwänden an den Athener Marktplatz der Antike, auf dem die Polis sich selbst begegnete - kontrolliert durch Sicherheitskräfte zwar, aber doch frei im Austausch von Fachwissen und Besserwisserei. Beim Fußball kann jeder mitreden - in diesem Sommer tat es auch jeder.
Eine monarchistische Demokratie mithin: König Fußball wacht schützend über dem machtfreien Diskurs seiner Schützlinge, die allenfalls einmal eine Bierflasche werfen. So wird es in den meisten Fällen des "Public Viewing" auch gewesen sein, und dennoch möchte ich das idyllische Bild durch eine eigene Erfahrung relativieren: Ich selbst hatte nämlich mit meiner Familie das Vergnügen, die Spiele in jenem Land zu verfolgen, das zwar als Weltmeister aus dem Wettbewerb hervor ging - selbiges aber mit einem Selbstbewusstsein, das von einem Kopfstoß Zidanes angeschlagen schien. Das Endspiel zum Beispiel sahen wir in einer Fattoria auf dem Lande, deren Besitzer mit untrüglichem Geschäftssinn eine Leinwand und einen Videobeamer aufgebaut hatte - und an diesem Abend wahrscheinlich so viel von seiner vorzüglichen Pizza absetzte wie sonst vielleicht das ganze Jahr über nicht. Angesichts des Spiels ihrer Mannschaft verging den angerückten italienischen Großfamilien zwar das Jubeln, nicht aber der Appetit: Die um sich greifende Depression der Gastgeber machte es uns zunehmend peinlich, wenn unser Sohn (neun) die Aktionen der Franzosen hochleben ließ oder die beiden Töchter (zehn und zwölf) die Fehlpässe der Italiener hämisch bekicherten. Wir taten lieber so, als stecke im italienischen Spiel noch irgendein Funken von Inspiration und als sei Materazzi ein Unschuldslamm.
Mehr noch in den Knochen steckt mir aber die Begegnung Italien gegen die Ukraine, die wir in einem Restaurant auf uns wirken ließen. Anderer Ort, gleiche Szenerie: Am gegenüber liegenden Tisch hatte eine süditalienische Großfamilie Platz genommen, ließ sich Rotwein, Schinken und Brot schmecken und starrte düster auf den Bildschirm - auf einen Bildschirm, auf dem ich zu meinem Entsetzen Ukrainer in gelben Trikots auflaufen sah. Die waren so gelb wie meine eigene Bekleidung, die ich in Unkenntnis der ukrainischen Farben und im Überschwang des Urlaubs angelegt hatte. Tatsächlich musste ich mich vor dem finsteren Patron der Familie erklären, zu wem ich denn eigentlich halte, was ich für den Rest des Spiels mit etwas künstlichem Jubel für die Italiener unterstrich. Mit einem Wort: "Public Viewing" enthält auch das äußerst unangenehme Element der sozialen Kontrolle, die Kehrseite der demokratischen Freizügigkeit. Das Lagerdenken, unverzichtbar im Fußball, übt seine totalitäre Herrschaft aus.
Ich denke, dass "Public Viewing" eine temporäre Erscheinung ist, die wellenförmig mit bestimmten Ereignissen kommt und wieder abebbt. Bedeutsam scheint mir das Phänomen als neue Facette der Mediengesellschaft. Befördert durch relativ neuartige Technik, hat das Fernsehen tatsächlich die Höhle des Privaten verlassen, die sie seit der Nachkriegszeit mit kaltem Schein illuminierte. Wer es bei dieser Rolle belassen möchte, wird sich vielleicht bald fragen lassen müssen, was er denn auf seinem Bildschirm zu verbergen habe, und das wäre die soziale Kontrolle durch das Medium Fernsehen.
Der Autor ist Feuilleton-Redakteur beim Kölner Stadtanzeiger.