Wir Deutschen haben uns wieder entdeckt. Ausschlaggebend war der in den USA lebende Klinsmann. Flaggen raus und hoch. Fähnchen ans Auto. Farbe ins Gesicht. Deutschland vor, noch ein Tor. Erstaunlich wie übergreifend Fußball im Vergleich zu Musik, gegebenenfalls sogar deutschsprachiger Musik, sein darf. Und natürlich spricht man vom neuen "Wir-Gefühl". Doch wie weit kann das gehen? Bis zur Pokalübergabe?
Weit daneben. Das Gefühl gibt es bereits seit langem. Zwar nicht so signifikant artikuliert wie zur Fußball-WM, weil medial nicht im Fokus der Politik. Doch in der Gesellschaft der Popmusik ist das Thema "Deutsch" längst salonfähig. Ein Hype gar. Nicht Ballack oder Klose hätte man zum Thema Deutschland befragen sollen. Eher die Sportfreunde Stiller, Rosenstolz, Wir sind Helden, Kettcar, Silbermond oder Juli hätten Interviewer um Antworten bitten müssen. Allesamt Popbands, die ihren Weg seit Jahren und lange vor der nationalen Deutschstunde im Juni 2006 den Berg hinauf stapfen. Dazu hielt das Jahr 2005 einen kleinen Höhepunkt der Welle bereit, denn deutschsprachige Musik erzielte mit 35,3 Prozent einen neuen Rekordanteil nationaler Albenproduktionen in den offiziellen deutschen Charts. In den Singlecharts 2005 stammen mit 51,4 Prozent sogar mehr als die Hälfte aller Produktionen aus Deutschland (Quelle: www.ifpi.de). Doch man muss vielleicht noch tiefer in der Popgeschichte kramen, um alles zu verstehen.
Historisch ist das Vorgehen der jungen Mittzwanziger nicht allzu selbstverständlich. Vor ein paar Jahren noch galt es unwiderruflich als verpönt, "Deutsch" zu Pop- und oder Rockmusik angloamerikanischer Art zu singen. Man wurde als "Schlagerfuzzi" abgekanzelt und hektisch von der Phonoindustrie in die dritten Programme geschoben. Die Plattenmanager drehten sich prustend weg ("Wie sollen wir das am Ballermann verkaufen?"). Und welcher Referentenstab hätte eine junge, deutschsprachige Popband zum Kanzleramtsfest wie 2006 die Berliner Band "Radiopilot" eingeladen? Kaum vorstellbar, aber nun möglich. Weil die Künstler seit 2002, dem Beginn der reorganisierten Deutschpopwelle, den typisch deutschen Musikpathos abstreifen konnten. Gitarren wurden nicht mehr gestreichelt, sondern lakonisch geschrammelt, bei Bedarf auch gedroschen. Und schon klingen Worte wie "Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist" (Sportfreunde Stiller - Kompliment, aus dem Album "Die gute Seite) bedeutend. Überhaupt, es gelang den aktuellen Bands sich von der letzten großen Deutschpopwelle loszulösen. Die Neue Deutsche Welle wurde endgültig abgeschafft. Denn mal ehrlich: "Da Da Da" von Trio, "Sternenhimmel" von Hubert K. oder "Pogo in Togo" von United Balls waren sicherlich lyrisch keine Überflieger. Und exakt da setzen die neuen deutschen Bands an. Die Band Kettcar aus Hamburg treibt die Lyrik auf die Spitze, regt mit Zeilen wie "Nur weil man sich so dran gewöhnt hat, ist es nicht normal/nur weil man es nicht besser kennt, ist es nicht (noch lange nicht) egal" nicht nur zum Nachdenken an, sondern spricht einer Altersgruppe aus der Seele. Endlich formuliert jemand, was viele dieser Generation fühlen. Das darf dann auch mal verquer ausgedrückt werden.
Und das merken die Bands und Künstler. Es findet Korrespondenz statt - Austausch. Man übertritt die letzte Schwelle. Alle Hemmungen fallen, wenn die Berliner Band Wir sind Helden samt Sängerin Judit Holofernes im Song "Denkmal" offen zugibt: "Sie haben uns ein Denkmal gebaut/und jeder Vollidiot weiß/dass das die Liebe versaut." Prosa, Lyrik oder Straßenromantik. Egal. Adressaten wurden gefunden. Und alte Recken wie Die Toten Hosen oder Die Ärzte profitierten nicht unklug von diesem neuen Sog.
Mittlerweile befinden sich 2006 alle Protagonisten in der nächsten Phase. Die Euphorie musste in die Nachfolgealben und die neuen Tour-Spielzeiten mitgenommen werden. Aber hätte man vor ein paar Jahren noch erwartet, dass sich der Aufruhr nach einer, der einzigen Platte, legt, belehren uns die Künstler eines besseren. Es kopiert sich keiner selbst. Eher persifliert man sich. Die Sportfreunde Stiller geben mit dem Album "You have to win Zweikampf" den Kicker von nebenan und schaffen Fußballhymnen wie "54, 74, 90, 2010". Wir sind Helden (Album "Von hieran blind", 2005) machen gar nicht den Versuch konsumkritischer zu werden, sondern meditieren textlich fast, denken viel nach. Sie sind vielleicht sogar melancholisch und fragen in "Bist Du nicht müde": "Gib mir das, ich kann es halten/Gib mir das, ich kann es halten/Wenn du es später noch willst/Kriegst du es wieder/Dann ist alles beim Alten". Es wird seitens der Musiker gedacht. Und nicht nur reproduziert. Man wächst mit dem Publikum. Die Münchener Band Silbermond versteht es auf ihrem zweiten Album "Laut gedacht" (2006) in Verbindung mit Rocksongs aus Texten gar Botschaften zu filtern: "Land ist in Sicht/ Wir haben lang danach gesucht/Wir könnten viel mehr sein/Lasst uns ein Meer sein". Sicher keine aufregende, vielschichtige Grass-Lyrik und auch nicht Schopenhauer affin, aber Generationsprosa. Das bedeutet den Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahre etwas. Weil es von Gleichgesinnten kommt. Menschen, deren Richtung vielleicht ebenso nicht jeden Tag klar definiert ist.
Der Status quo 2006 scheint klar definiert. Die deutschsprachige Musikszene lebt. Trotz aller politischen Zerstörungsversuche von Organisationen wie dem Musikexportbüro, den diversen bekannten oder unbekannten Popbeauftragten der Regierungen oder unzähligen "Round Tables der Industrie und Politik". Und sogar den ignoranten Programmplanern im Hörfunk ist es bis auf wenige Spartensendungen nicht gelungen die Musikszene zu plätten. Denn immer noch ist der Anteil deutschsprachiger Musik als kaum vorhanden einzustufen. Dazu setzen die öffentlich-rechtlichen wie privaten Hörfunkanstalten bei ihrem Programm vor allem noch auf Altbewährtes, auf Songs, die seit 20 Jahren Bestand haben. Der prozentuale Anteil deutschsprachiger Musik liegt bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten bei vier bis sieben Prozent, bei den privaten gar noch darunter.
Doch die Szene bleibt kühl und selbstbewusst. Offensichtlich hat sogar die Phonoindustrie gelernt. Versuchte man 2002 noch wöchentlich Klone der Sportfreude Stiller oder Wir sind Helden aus dem Boden zu stampfen, besinnt man sich aktuell auf den erarbeiteten Ruhm und lässt die Künstler wachsen.
Bei allem Medienwahn und Kommerz, der um deutschsprachige Popmusik entstand, darf man eines nie vergessen. Für die Musiker war die Tatsache "Deutsch" zu singen eine Selbstverständlichkeit. Kein Marketing-Kalkül und kein Manager, der Künstler umpolte. Nie im Leben hätten sich zum Beispiel Wir sind Helden erträumen wollen, dass Politiker wie der ehemalige Popbeauftragte der SPD, Sigmar Gabriel, Interesse für die Band zeigten, weil wohl eine kleine Art Konsumkritik in Holofernes Texten zu stecken schien. Also glaubten viele Politiker, das müsse mit vielen aktuellen Künstlern besprochen werden. Artikel und Foto inklusive. Kein Polit-Hahn hätte nach jenen Bands gekräht, sängen sie englisch. Und verstanden hat die eigentliche Botschaft der Deutschpopbands niemand. Gut zuhören ist wichtiger als viel reden. Das bedeutet Erfolg. Wohl aber nicht zwanghaften Patriotismus.
Der Autor ist freier Journalist und schreibt unter anderem für musicoutlook.de und die "neue musikzeitung (nmz)".