Das Parlament Herr Maucher, Sie haben Nestlé, den größten Lebensmittelkonzern der Welt, zu einem globalen Unternehmen geformt. Trotzdem halten Sie es für wichtig, dass sich Führungskräfte ihrer Wurzeln und ihrer Herkunft bewusst sind. Warum?
Helmut Maucher Ich bin eben der Meinung, dass jemand, der seine Herkunft und seine Wurzeln völlig vergisst, ein künstlicher Mensch wird. Seine natürliche innere Stabilität ist nicht mehr da. Man soll seine Wurzeln behalten, aber daneben begreifen, was insgesamt auf der Welt vor sich geht. Ich habe meinen Leuten in den Führungsseminaren immer gesagt, dass sie ihre Traditionen behalten sollen. Wer weiß, wo er herkommt, wird nicht künstlich. Aber zwei Dinge sollten sie beherzigen: Erstens, sich mit der Unternehmenskultur von Nestlé zu identifizieren, die so beschaffen ist, dass sie regionale oder lokale Kulturen nicht verletzt Zweitens sollen sie den Willen haben, innerhalb von Nestlé mit anderen Mitarbeitern und anderen Traditionen zusammenzuarbeiten. Es gilt also, die eigene Herkunft, Traditionen und Wurzeln nicht zu vergessen, aber gleichzeitig darüber hinaus zu wachsen. Das schafft die stabilsten und erfolgreichsten Manager.
Das Parlament Spielen Emotionen und Loyalitäten bei strategischen oder wirtschaftlichen Entscheidungen überhaupt noch eine Rolle? Geht es eigentlich nicht nur noch um Zahlen?
Helmut Maucher Das mag Sie überraschen, was ich jetzt sage. Je anonymer und technologischer die Welt wird, desto mehr Bedeutung werden die Emotionen behalten, weil der Mensch so ist, wie er ist. Wir wissen doch längst aus der Hirn- und Verhaltensforschung, dass die rechte Gehirnhälfte eine viel größere Bedeutung hat, als wir jahrelang geglaubt haben. Wenn Sie das außer Acht lassen, machen sie in der Menschenführung jeden Tag Fehler. Und ich glaube, dass diejenigen, die ausschließlich mit Zahlen und rein technokratisch arbeiten, in die Irre laufen. Das führt langfristig nicht zum Erfolg.
Das Parlament Wir hatten die "Heuschreckendebatte", die manchmal wie ein Ausverkauf deutscher Firmen anmutete. Wie ist sie bei Ihnen angekommen - auch vor dem Hintergrund einer Patriotismusdebatte?
Helmut Maucher Ich sehe die Dinge natürlich differenziert. Ein Politiker muss immer mal ein provokantes Wort riskieren, damit er Aufmerksamkeit erzielt. Das Engagement der Equity-Firmen hat zu 50 Prozent etwas Gutes, weil sie Unternehmen neue Impulse und Perspektiven, manchmal auch frisches Kapital geben. Das ist marktwirtschaftlich sinnvoll und letztendlich gut für den Verbraucher. Das Problematische ist, dass sie manchmal zu engstirnig und finanziell zu kurzfristig denken. Die Leute agieren als reine Finanzexperten, verstehen aber nichts vom Geschäft. In dieser Hinsicht machen sie dann doch Fehler, weil damit zuviel kurzfristiges Profitdenken einzieht und die langfristige Entwicklung eines Unternehmens damit vernachlässigt wird. Die haben in den ersten sechs Monaten Erfolge. Und dann verkaufen sie die Firma auch schon wieder zu einem Zeitpunkt an andere, die dann hoffentlich bereit sind, das Unternehmen vernünftig weiterzuentwickeln. Kurzum, auch "Equity-Firmen" sind oft nützlich in der ersten Phase, aber selten geeignet, das Unternehmen nachhaltig weiterzuführen. Wie so oft im Leben ist die Hälfte gut.
Das Parlament Deutsche Unternehmen investieren oftmals im Ausland, um billiger produzieren zu können. Können Sie diesen "Wanderzirkus" nachvollziehen? Denn schließlich steigen die Arbeitskosten auch im Ausland kontinuierlich.
Helmut Maucher Natürlich müssen Unternehmen heute Produktion oder Dienstleistungen teilweise ins Ausland verlagern. Das ist ein Prozess, den man im Prinzip nicht mehr aufhalten kann. Aber oft verrechnen sich die Leute, weil natürlich die Lohnkosten allein gesehen kein Kriterium sind. Außerdem ändern sich die Löhne auch im Ausland. Die tüchtigsten Länder kommen am raschesten in unsere Kostenstruktur. Denken Sie an Japan. Das war vor 20 Jahren die große Bedrohung. Und Sie können nicht alle drei Monate wieder ins nächste Land gehen. Darüber hinaus spielt die Qualität der Arbeit, die Infrastruktur im Land, die Verlässlichkeit und anderes eine Rolle, die auch für den Erfolg wichtig ist. Deshalb muss ich vorsichtiger und längerfristiger vorgehen und alle Faktoren berücksichtigen. Damit tue ich auch etwas für den Standort Deutschland. Das halte ich dann für einen vernünftigen Wirtschafts-Patriotismus. Aber wir können die Globalisierung nicht außer Kraft setzen.
Das Parlament Sie plädieren in einer global agierenden Wirtschaft für mehr Patriotismus nach innen. Was meinen Sie damit?
Helmut Maucher Ich bin generell gesehen eigentlich schon froh darüber, dass man in Deutschland das Wort ‚Vaterland' wieder erwähnen kann, ohne gleich als "reaktionär" verteufelt zu werden. Und dass auch Patriotismus wieder im vernünftigen Sinne mehr ist als der vorsichtig so genannte Verfassungspatriotismus. Der Verfassungspatriotismus war ja der Einstieg für die Linken und die Intellektuellen, dass wir das Wort wieder verwenden durften. Patriotismus ist mehr als das. Ich hoffe aber nicht, dass wir jetzt wieder in Extreme verfallen, so wie diejenigen, die jetzt plötzlich in manchen Länderparlamenten den äußersten rechten Flügel besetzen. Eine vernünftige Interessenwahrnehmung unseres eigenen Landes, ein vernünftiger Zusammenhalt in diesem Land und eine emotionale Bindung und Komponente ist sicher sinnvoll. In allen anderen Ländern gibt es das. Wir sind doch fast das einzige Land, in dem man in den vergangenen 30 Jahren in der Schule die Nationalhymne nicht mehr gelernt hat. Ich glaube, dass Deutschland in diesem Punkt ‚entkrampfter' wird. Aber es darf nie dazu führen, dass wir uns jetzt nur noch verengt mit Deutschland befassen. Die Welt wächst zusammen. Wir müssen auch europäisch und global denken. Zusammenarbeit und Kooperation mit anderen geht - das ist eine Erfahrung von mir - immer besser, wenn man selbst aus seiner eigenen Stärke heraus handelt. Dann ist man viel eher auch bereit, Kompromisse zu schließen. Wenn sie selber schwach sind, werden sie wie ein Schiffchen im Sturm hin- und hergeschaukelt. Und sie werden auch schlechter behandelt. Es braucht ein gesundes Selbstbewusstsein.
Das Parlament Wie beurteilen Sie es, wenn prominente und sehr gut verdienende Deutsche Ihre Wohnsitze ins Ausland verlagern, um Steuern zu sparen?
Helmut Maucher Zum Teil kann ich diesen Schritt verstehen, weil die anderen Länder zu gute Bedingungen bieten. Und ich begreife es dann beispielsweise bei der Firma Müller. Um die Existenz des Unternehmens zu erhalten, sollte die deutsche Erbschaftssteuer umgangen werden. Es gibt ja jetzt auch die Diskussionen, eine Möglichkeit zu schaffen, die Steuer zehn Jahre auszusetzen, wenn das Unternehmen mindestens zehn Jahre weitergeführt wird und in Deutschland bleibt. Das würde dem Standort Deutschland nützen. Für die anderen, die persönliche Motive anführen, habe ich offen gesagt kein Verständnis. Ich denke an Leute von Schumacher bis Becker. Es tut mir schrecklich leid, die Leute verdienen so viel Geld. Sie werden als Deutsche hoch gelobt und unterstützt und imagemäßig aufgebaut. Ich verstehe nicht, dass jemand dann seine Steuern nicht in Deutschland bezahlt. Wenn diese Leute dann gleichzeitig behaupten, dass sie gern Deutsche sind und Deutschland mögen, empfinde ich dies als verlogen. Ich selbst habe in der Schweiz gearbeitet und gelebt. Und habe dort eine lange Zeit meine Steuern bezahlt. Ich habe viel Geld gespart im Vergleich zu deutschen Steuerzahlern. Aber für mich war es genauso klar, als wir nach Deutschland gezogen sind, dass ich nicht an 190 Tagen in der Schweiz bleibe, um Steuern zu sparen. Ich habe gesagt, ich bin Deutscher, habe genug Geld, zahle hier als Staatsbürger meine Steuern und tue das, was richtig ist. Ich bin zwar nicht glücklich, dass ich so viel Steuern bezahlen muss. Da muss etwas passieren. Aber wenn es so ist, dann bezahle ich sie eben auch.
Das Interview führte Ines Gollnick.