Im Gegenteil, wer die menschliche Geschichte umfassend studiert hat, weiß, dass die Zentrierung menschlicher Existenz auf den Nationalstaat nur sehr spät eingesetzt hat - auch wenn die durch den modernen Nationalstaat geförderte Geschichtsschreibung diese Wahrheit lange übersehen beziehungsweise zumindest in der neuen politischen Organisationsform das eigentliche Telos der Geschichte zu entdecken geglaubt hat. Für den mittelalterlichen Menschen war die religiöse Identität viel zentraler als die politische, und es hat des Übergangs von der ständischen zur tendenziell egalitären demokratischen ebenso wie von der Agrar- zur Industriegesellschaft bedurft, um in ganz Europa die Entstehung des modernen Nationalstaates und zumal der ihn tragenden nationalistischen Ideologie durchzusetzen. Wesentlich war ferner, dass von schon bestehenden Nationalstaaten ein enormer Druck auf andere politische Organisationsformen ausging; denn diese waren den neuen Gebilden in Kriegen und oft auch wirtschaftlich unterlegen. Sie verfolgten, wie man sagt, keine "evolutionär stabile Strategie".
Warum ist dann die nationalstaatliche Ideologie zusammengebrochen, wieso ist der Nationalstaat in eine Krise geraten? Sicher spielen erstens die beiden Weltkriege eine zentrale Rolle, die Millionen Menschen töteten, statt ihnen den Schutz zu bieten, der den Staat eigentlich erst legitimiert. Die Exzesse des Nationalismus ließen zweitens auch sein moralisches Grundproblem deutlich werden: Er verlangt eine sehr weitgehende Solidarität nach innen und, sofern demokratisch organisiert, mehr Gleichheit, als die Geschichte bisher gekannt hat; doch die Ungleichheit zwischen den Staaten ist durch ihn nicht geringer, vielleicht sogar größer geworden. Drittens hat die moralische Katastrophe Deutschlands den Rückgriff auf die Vergangenheit und damit das Bewahren einer nationalen Identität sehr erschwert. Man kann schlecht bestreiten, dass zumindest qualitativ zwischen Deutschlands geistig größter Zeit - 1750 bis 1933 - und der bundesrepublikanischen Epoche nicht viele Gemeinsamkeiten bestehen. Und viertens haben massive Veränderungen in Transport, Informationsübertragung, Kapitalverkehr sowie die Herausbildung einer Weltsprache, die den Ortswechsel von wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten bedeutend erleichtert hat, die reale Basis einer globalen Gesellschaft gebildet. Über deren Existenz zu jammern, weil sie in der Tat die Spielräume traditioneller nationalstaatlicher Politik zunehmend einengt, ist nicht nur praktisch erfolglos.
Es ist auch moralisch fragwürdig, weil die Globalisierung, sofern richtig betrieben, auch den Ärmsten auf dem Planeten Chancen gibt, die sie sonst nicht haben. Zwar ist es richtig, dass zwischen dem Globalisierungsbourgeois, der sich dorthin bewegt, wo er am meisten verdienen kann, und dem Weltbürger, der etwa in "Ärzte ohne Grenzen" wirkt, ein gewaltiger moralischer Unterschied besteht. Doch die Übergänge sind in der Realität kontinuierlicher - man denke an Bill Gates, dessen Stiftung für Afrika mehr leistet als die Entwicklungshilfeministerien zahlreicher westlicher Industriestaaten.
Wenn ein Wirtschaftsminister einen Unternehmer auffordert, patriotisch zu denken, das heißt, zu Hause zu investieren, darf dieser guten Gewissens entgegnen, der moralische Grenznutzen sei höher, wenn er die Elenden dieser Erde in Brot und Arbeit bringt, und wenn dann der Minister kontert, es gehe ihm doch gar nicht um diesen moralischen Grenznutzen, sondern nur um seinen Profit, kann dieser erwidern, des Ministers Kenntnis des menschlichen Herzens sei erstaunlich, aber er solle sich dann auch selbst fragen, ob es ihm denn nicht vielleicht primär um seine Wiederwahl gehe.
Kurz, beide sind quitt und sollten besser anerkennen, dass positive geschichtliche Veränderungen stets auch durch Eigennutzen in Gang gekommen sind. Das Problem reduziert sich dann auf die zwei Sachfragen, ob es eine moralische Pflicht gibt, den Elendsten eher zu helfen als denen, denen es leidlich geht, und ob die Globalisierung ein taugliches Mittel dazu sei. Die erste Frage ist sicher, die zweite unter Vorbehalten zu bejahen. Und man sollte einem Unternehmer nicht abstreiten, dass, neben dem Profit, eines seiner Motive der Wunsch ist, seine Ideen umgesetzt zu sehen, und dass er das lieber dort tut, wo er weniger erwürgende Bürokratien und arbeitswilligere Mitstreiter findet. Und wenn sich nun der Kultusminister zu Worte meldet und zwischen des Unternehmers Auslandsinvestitionen und seinem bleibenden Wunsch nach einer blühenden heimischen Kultur, die nun nicht mehr finanziert werden könne, einen Widerspruch zu erblicken glaubt, kann letzterer erwidern, eine zivilgesellschaftlich finanzierte Kultur sei in der Regel besser als eine von Ministerialbürokraten gesteuerte.
Indem er sich für das Ausland entscheidet, erhöht jener Unternehmer im übrigen den Druck im Inneren, vernünftigere Rahmenbedingungen zu schaffen - ein Druck, der eher Wirkung verspricht als das Abfassen selbst der besten volkswirtschaftlichen Lehrbücher, die nicht von vielen Politikern gelesen werden. Er hilft also seiner Heimat mehr, als wenn er deren Ineffizienz akzeptiert, und handelt gerade dadurch patriotisch - sicher patriotischer als jene Politiker, die die erforderlichen Reformen sich nicht zutrauen, weil sie um ihre Wiederwahl fürchten, und deren Patriotismus sich auf den Appell an die Bürger beschränkt, eine unvernünftige Politik aus Heimatliebe zu akzeptieren.
Die DDR würde noch bestehen, wenn sich nicht im Sommer 1989 viele ihrer Bürger und Bürgerinnen auf den Weg nach Ungarn gemacht hätten. Richtig ist allerdings, dass eine kritische Masse ausreichend intelligenter und moralischer Bürger zurückbleiben muss, wenn die politischen Veränderungen sinnvoll verlaufen sollen, für die sich ein Land schließlich entscheiden muss. Doch hängt es zum Beispiel von dem individuellen Begabungsprofil, der individuellen Lebenserwartung ab, ob man lieber zu Hause warten will oder durch eine Auslandsinvestition, Auswanderung und andere weltbürgerliche Aktivitäten den Anpassungsdruck für die eigene Heimat erhöhen möchte.
Da eine Anhänglichkeit an das Land des eigenen Ursprungs, zumal an die Muttersprache normal ist, ist ferner davon auszugehen, dass Unternehmer in ihre Heimat wieder zurückkehren werden, wenn diese endlich Rahmenbedingungen geschaffen hat, die vernünftiger sind. Sie werden reicher zurückkehren - nicht nur finanziell, sondern auch geistig reicher, weil die Begegnung mit anderen Kulturen und Erfahrungswelten durch kaum etwas anderes ersetzt werden kann. In der Zwischenzeit ist ein Land, das von massiver Auswanderung seiner Eliten bedroht ist, gut beraten, fähige Einwanderer aufzunehmen. Denn das wird das Geheimnis des 21. Jahrhunderts sein: Jene Staaten werden am ehesten florieren und die stärksten patriotischen Gefühle auslösen, die die leistungsstärksten und moralischsten Weltbürger am längsten an sich zu binden vermögen.
Der Autor ist deutscher Philosoph und lehrt zur Zeit an der University of Notre Dame in Indiana (USA).