Ich gehöre einer Generation britischer Schulkinder an, denen beigebracht wurde, Lieder von englischen Siegen über die Franzosen zu singen: "Herz aus Eiche" oder "Boney war ein Krieger". Sie feierten die Niederringung Napoleons nicht nur durch britische Soldaten, sondern auch als Triumph "britischer" Fähigkeiten gegenüber denen Kontinentaleuropas. Wir nennen unsere Eisenbahn-Knotenpunkte nicht "Hauptbahnhof", sondern "Waterloo" nach einer großen Schlacht oder "Victoria" nach einer lang gedienten Königin.
Heutzutage lehren Schulen keinen Patriotismus mehr, und ich bin sehr dankbar dafür. In einer multi-kulturellen Gesellschaft sollten wir in der Lage sein, pakistanischen, indischen oder jamaikanischen Schülern beizubringen, dass es andere Gründe gibt, auf Großbritannien stolz zu sein als auf die Tatsache, dass britische Soldaten erfolgreich andere Armeen niedergemetzelt haben.
Daher habe ich immer die zurückhaltende Art zu schätzen gewusst, mit der deutsche Schulen mit der Frage der nationalen Identität Deutschlands umgegangen sind. Es war langweilig und unspektakulär, aber mit gutem Willen. Das Problem ist, dass diese unpatriotische Erziehung Konflikte und Verwirrungen in der deutschen Psyche hervorgerufen hat. Das Land präsentierte sich offiziell als ein schüchterner, zurückhaltender Mitspieler auf der globalen Bühne. Es vermied kämpferische Missionen im Ausland. Es stellte lieber Schecks aus. Es verhielt sich respektvoll gegenüber seinen früheren Opfern in Israel, Polen und Russland. Und dennoch wurde zur selben Zeit - und nicht nur an den Stammtischen -, beklagt: Warum dürfen wir nicht sagen, was wir wirklich denken? Warum können wir nicht Deutschlands Interessen aussprechen - und sie öffentlich verteidigen?
Die Briten nahmen diese widersprüchlichen Gefühle wahr. Für uns stellten sie eine Erklärung für einige der Geheimnisse deutschen Verhaltens dar. Es zeigte uns, warum Helmut Kohl so versessen darauf war, ein vereinigtes und von Deutschland gesteuertes Europa zu schaffen. Weil er keinen anderen Weg sah, die Ambitionen eines neuen, expandierten Deutschlands auszudrücken. Die Nachbarn, so kalkulierte er, würden kein patriotisches Deutschland dulden. Warum waren die Neo-Nazis auf einmal so aktiv im vereinigten Deutschland? Weil sie Tabus brachen, öffentlich über die Nation sprachen. Warum war das vereinigte Deutschland so geteilt? Weil die politische Führung, die sich vor der nationalen Frage fürchtete, unfähig war eine gemeinsame Vision für das Land zu entwickeln. Man sprach nur von Europas Wünschen, ohne zu fragen: Was kommt als nächstes für Deutschland?
Schröder veränderte das Verhältnis ein wenig, aber seiner Auslegung von Patriotismus mangelte es an Glaubwürdigkeit sowohl bei den Deutschen als auch bei uns Außenstehenden. Er entstammte einer Generation, die "Nie wieder Deutschland!" skandiert hatte. Das war für die Briten nur schwer zu verstehen. Die WM kann gut der Wendepunkt gewesen sein. Ich wehre mich aber dagegen, diese Theorie allzu energisch zu vertreten, da Fußballrausch nicht mit tieferen Emotionen verwechselt werden sollte. Aber das Flaggen-Schwenken war von Bedeutung; vor allem vielleicht die Bereitschaft deutscher Türken, die deutsche Flagge zu schwenken. Es war nicht 1989, aber es war ähnlich. Die offiziellen Vermarkter (Land der Ideen) und der übereifrige Autor Matthias Matussek ("Wir Deutschen") versuchten, dem Fußball-Fieber einen intellektuellen Überbau zu geben. In der Matussek-Version hatte Deutschland eine spezielle Stufe in seiner modernen Geschichte erreicht: das Ende der Scham und die Wiedergeburt des Stolzes. In Großbritannien hatten wir keine Probleme mit deutschem Stolz. Aber beinhaltete das Ende der Scham (für die Nazi-Ära natürlich) eine Umschreibung der Geschichte? Die Verzerrung der Erinnerung? Die Präsentation der Deutschen eher als Opfer, sogar heldenhafte Opfer denn Täter? Matussek hat diese Frage nie wirklich beantwortet. Wir in Großbritannien bleiben skeptisch gegenüber Autoren, die Enthusiasmus als Ersatz für Argumente benutzen.
Was trotz allem anhält, ist das Wir-Gefühl der WM. Der Erfolg der WM scheint durch eine Kombination aus deutschen und undeutschen Qualitäten entstanden zu sein. Deutsches Organisationstalent schuf die Fan-Meilen, Umzäunungen für Patrioten; aber dies wurde kombiniert mit einer offenen, unterhaltsamen undeutschen fußballerischen Spielweise auf dem Rasen - und einem Monat voll undeutschen Sonnenscheins. Was passiert, wenn aus diesem Sommer Winter wird? Werden die Deutschen erneut mit ihrem Prozess der Selbstzerfleischung beginnen?
Ich glaube, dass sich etwas geändert hat. Das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Heimat ist teilweise durch deren späte Industrialisierung, die späte Vereinigung bedingt. Selbst Italien war eine verspätete Nation, und auch dieses Land wurde von einem faschistischen Regime beherrscht. Irgendwie hat es Italien dennoch geschafft, bei jeder sich bietenden Gelegenheit sich selbst zu feiern - auch wenn nicht die Sonne scheint.
Vielleicht ist es das, was in Deutschland passiert:Das Land wird mediterraner. Nicht nur, weil seine jungen Männer immer häufiger bis Ende 20 bei ihren Müttern leben. Nicht nur, weil es in Berlin mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert ist, den ganzen Morgen Café Latte zu trinken und im Büro zu flirten. Nein, die Deutschen sind dabei, einen lockereren Umgang mit ihrer Nation und ihren nationalen Symbolen zu lernen. Nicht das Ende der Scham, aber der Beginn des Endes von Deutschlands lang gehegtem Sinn für Betrübtheit, eine neue Leichtigkeit des Seins. Bin ich zu optimistisch? Wahrscheinlich. Lasst uns abwarten, ob der neue Patriotismus einen langen grauen preußischen Winter übersteht.
Der Autor ist Deutschland-Korrespondent der "London Times". Aus dem Englischen übersetzt von Heike Cornelsen.