Das neue deutsche Selbstwertgefühl stößt in Russland durchaus auf Gegenliebe. Denn die Liebe zum eigenen Land ist spätestens seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin in Moskau wieder en vogue und wird vom Kreml mit viel Engagement gefördert. Die Diskussion um den Nationalstolz in "Germania" ist in den russischen Zeitungen trotzdem nur auf den hinteren Seiten zu lesen. Während der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland konstatierte die russische Presse verwundert, eine Art Temperamentwandel bei den Deutschen. Als Beispiel führte sie den millionenfachen Absatz deutscher Fähnchen und nationaler Symbole an, sowie den auf Gesichtern, Hälsen und Schultern aufgetragenen schwarz-rot-gold schimmernden Stolz auf die eigene Fußballnationalmannschaft. Den letzten Beweis für den neuen deutschen Patriotismus brachte allerdings der euphorische Freudensprung von Bundeskanzlerin Angela Merkel am Ende des siegreichen Spiels Deutschland gegen Polen. Hier zeigte die "trockene Merkel", wie ein russisches Wochenmagazin sie tituliert, dass selbst Bundespolitiker längst auf den Patriotismus-Zug aufgesprungen sind.
Solch harmlose Erscheinungen einer offen zur Schau getragenen Vaterlandsliebe werden in Russland mit Interesse und Wohlwollen aufgenommen. Die meisten Russen fühlen sich durch sie keinesfalls bedroht. Sie gehen entspannt mit der Diskussion um patriotische Gefühle der Deutschen um. Erinnerungen an die dunklen Jahre deutscher Geschichte, an die "deutsche Schuld", unter denen so viele Sowjetbürger gelitten haben, spielen in der Reflexion der Patriotismusdebatte kaum eine Rolle. Dies wird vermutlich auch so bleiben, solange sie auf dem Niveau eines aufgeklärten Gedankenkonstrukts bleibt. Sollte die Debatte allerdings eines Tages Züge von Überheblichkeit annehmen, wird das russische Verständnis sicherlich schnell ein Ende finden.
Die russische Gesellschaft befindet sich selbst inmitten einer Diskussion um Stolz, Vaterlandsliebe und Staatsmoral. Präsident Wladimir Putin, die Kreml-Administration und der Inlandsgeheimdienst FSB wissen durchaus, wie staatlich verordneter Patriotismus zum Leben erweckt werden kann. Vorbilder aus der Sowjetzeit gibt es genügend. Schon vor Jahren schuf Putin ein staatliches Programm für die "patriotische Erziehung der Bürger". Vordergründiges Ziel: politische Stabilität, Verteidigungsfähigkeit und Stärkung der Wirtschaft. Der neue Patriotismus, versehen mit einer gehörigen Portion Pathos, soll aber auch von innenpolitischen Problemen ablenken und den Russen als verbindender Faktor dienen. Viele Bürger trauern immer noch der multiethnischen Supermacht Sowjetunion nach. Nach Jahren des Leidens, bieten die explosionsartig steigenden Gas- und Ölpreise die Möglichkeit eines erneuten Aufstiegs in die ökonomische und politische Weltelite. Um dieses Ziel schnell zu erreichen, scheint die patriotische Wiederaufrüstung ein nützlicher innenpolitischer Hebel zu sein.
Die russische und deutsche Patriotismus-Variante unterscheiden sich also durchaus voneinander. Während in Russland - wie schon zu Sowjetzeiten - der Staat der eigentliche Motor ist, lassen sich in Deutschland Anzeichen patriotischer Gefühle beobachten, die direkt aus dem Volk kommen. Dass entsprechende Stimmungen von führenden deutschen Politikern aufgegriffen werden, ist eine Folge davon. Der von Moskau initiierte, ideologisch verbrämte "Stolz auf die Heimat" könnte dagegen zu einem Hurra-Patriotismus mutieren. Dann droht die Gefahr, dass er eines Tages einem russischen Nationalismus und Chauvinismus Platz machen könnte.
Die russischen Medien mussten in den zurückliegenden Monaten schon mehrfach über fremdenfeindliche Exzesse, bis hin zu Bombenanschlägen mit Todesopfern berichten. In ihrer Analyse sehen sie zwar klare Anzeichen von Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft, ein Aufkommen eines russischen Nationalismus wird jedoch verneint. In diesem Zusammenhang wird auch auf Deutschland verwiesen, das mit ähnlichen Problemen wie Russland zu kämpfen habe. Ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland bestehe aus Nicht-Deutschen. Die Kultur an Rhein, Elbe und Spree sei längst multiethnisch, wie könne das Land also ein gemeinsames nationales Gefühl entwickeln? In dieser Frage schwingt der eigene Wunsch nach einem starken, geeinten Russland mit. Vielleicht kann die deutsche Patriotismusdebatte der russischen Öffentlichkeit neue Ansätze liefern.
Der Autor arbeitet für die "Deutsche Welle", Büro Moskau.