Diese Zielperspektive deutscher Politik war insofern unumstritten, als deutsch-deutsche Teilung, Kalter Krieg sowie die historische Hypothek des Nationalsozialismus zu einer Selbstwahrnehmung des eigenen Landes als "postnationaler Demokratie unter Nationalstaaten" (K. D. Bracher) geführt und Kategorien wie "Nationalstaatlichkeit", "Wiedervereinigung" oder auch "Patriotismus" - so sie nicht per se im Lichte der deutschen Vergangenheit delegitimiert schienen - zunehmend an politischer Bedeutung verloren hatten. Bekanntlich kehrte die "Nation" im Zuge der revolutionären Ereignissen von 1989 und der Wiedervereinigung 1990 zwar auf die Agenda deutscher Politik zurück, wurde dort jedoch umgehend dem Primat einer Integrationslogik von Erweiterung und Vertiefung des europäischen Projekts untergeordnet. Eine nationale Aufbruchstimmung mutete manchem Westdeutschen eher anachronistisch und bedrohlich denn zukunftsvoll und proeuropäisch an.
Umso mehr verwundert nun jene schwarz-rot-goldene Selbstentdeckung der Deutschen im Sommer 2006, die natürlich primär, aber keineswegs ausschließlich auf die Fußballbegeisterung der Weltmeisterschaft zurückgeführt werden kann. Wenn heute, im 17. Jahr der deutschen Einheit und mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr über Patriotismus in Deutschland denn über ein Mehr an "Europäismus" nachgedacht wird, wenn Patriotismus gegenwärtig gar weniger mit der Verfassung, den Buchstaben des Grundgesetzes, als vielmehr mit der Nation als politischer Bewusstseinsgemeinschaft der Deutschen in Verbindung gebracht wird, so hat dies wesentlich damit zu tun, dass die Frage "Quo vadis, patria?" in zeitgemäßer Übersetzung auf die Agenda deutscher Politik zurückgekehrt ist. Bereits zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung setzte sich in Kanzleramt und Auswärtigem Amt zunehmend die Erkenntnis durch, dass "Vaterland Europa" bzw. "Europa der Vaterländer" kaum länger als Alternativen deutscher Politik taugen.
Dass Patriotismus und Europa, dass Nation und Integration viel eher zwei Seiten einer Medaille darstellen denn Gegensätze bilden, dieser Bewusstwerdungsprozess resultiert aus signifikant gewandelten Rahmenbedingungen deutscher Integrationspolitik in Europa. Zu diesen gewandelten Rahmenbedingungen haben die gescheiterten Referenden zur Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden ebenso beigetragen, wie die unübersehbaren Zentralisierungs- und Vertiefungsvorbehalte der mittelosteuropäischen Neumitglieder der EU-25, voran Polen; dazu hat die Spaltung der Union in ein "altes" und "neues" Europa im Verlauf des Irak-Kriegs ebenso beigetragen wie die förmliche Entscheidung der EU-Staats- und Regierungschefs zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Hinzu kommt, dass Frankreich und Großbritannien ebenso wie Polen, Tschechien und die meisten anderen EU-Mitgliedsstaaten keinen Zweifel daran lassen, Europa bauen zu wollen, ohne dabei die Nationalstaaten überwinden zu wollen.
Im Lichte des "9. November" (Öffnung der Mauer) sowie des "11. September" (Terroranschläge in den USA) als den beiden weltpolitischen Zäsuren der jüngsten Vergangenheit kann es niemanden verwundern, dass die Metapher vom "Vaterland Europa", heute allenfalls in kultureller Hinsicht noch Strahlkraft zu entfalten vermag, realpolitisch jedoch nahezu bedeutungslos geworden ist. Nicht nur, dass aus vergangenheitspolitischen Gründen keine der von kommunistischer Diktatur und sowjetischer Blockdominanz befreiten Nationen Mittel- und Osteuropas irgend ein Interesse zeigen, den Nationalstaat als fundamentale Größe in einer integrierten Europäischen Union aufzugeben. Desillusionierend hinsichtlich einer Vertiefung der (außen-)politischen Integration der EU ist wesentlich auch die Erinnerung an das Auseinanderdriften der Union in ein "altes" und "neues" Europa im Zuge der amerikanischen Irak-Politik. Auch wenn die 25 Mitgliedsstaaten aus dieser innereuropäischen Krise zu lernen gewillt sind und Konsequenzen hinsichtlich einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ziehen wollen, so ist das Grunddilemma Europas als transatlantischer Partner beziehungsweise als "dritte" Kraft im Spiel der großen Mächte nach wie virulent.
Unbestreitbar ist, dass sich die Physiognomie eines heterogener gewordenen Staatenverbundes mit bald 27 Mitgliedern seit Beginn des neuen Jahrhunderts verändert hat - die Zeit des kleinen, überschaubaren "Kuschel-Europas" (EU-Kommissar Günter Verheugen) mit der Gleichzeitigkeit von Erweiterung und Vertiefung ist vorbei. Dies auch unumwunden und klar zu bekennen, dazu konnten sich die verantwortlichen politischen Parteien in Deutschland bislang noch nicht durchringen. Rhetorisch wird - noch - an der Illusion dieser Gleichzeitigkeit festgehalten. Die Frage ist nur, wie lange.
Es liegt im deutschen Interesse, den Nationalstaat als rationale Größe des politischen Handelns zu erhalten und positiv zu akzentuieren, zumal die nationalstaatlich verfasste Bürgergesellschaft gemeinsam mit der Demokratie und der Marktwirtschaft, nach wie vor die Säulen der Freiheit bildet. Der Patriotismus, das gemeinwohlorientierte, solidarische Engagement der Bürger ist der Zement, der die Säulen sowie das gemeinsame Haus, die Nation, zusammenhält, um der Freiheit der Menschen, der Bürger willen. Im Bewusstsein eines solchen Zusammenhangs von Patriotismus, Nation und Verfassungsstaatlichkeit steht es für die meisten EU-Mitgliedsstaaten völlig außer Frage, dass Patriotismus - der auf die Bedeutsamkeit einer vorhandenen und je konkreten patria für die conditio humana verweist und doch zugleich aufgrund seines Wertefundamentes von Humanität, Freiheit und Gleichheit grenzüberschreitend und weltoffen ist - einem europäischem Engagement keineswegs opponieren, sondern sich gegenseitig bedingen.
Europa, die Europäische Union, lebt nur in und aufgrund der Vielheit seiner Völker. Es gibt keinen realistischen Zugang zu Europa ohne die Vermittlung der Nation. Daran lässt im Übrigen der bislang von 15 Mitgliedsstaaten ratifizierte "Verfassungs"-Vertrag für Europa keinen Zweifel, nicht zuletzt, weil er auf die Zielperspektive eines europäischen Bundesstaates bewusst verzichtet. Obwohl er auf diese Perspektive verzichtet, gilt er in manchem Mitgliedsland als allzu zentralistisch, als allzu ambitionierter Versuch, über den Begriff der "Verfassung" der Union eine Staatsqualität über die Hintertür zuzuschreiben, die sie nicht hat und für die meisten Bürger Europas nicht haben soll. Angesichts dieser komplexen europäischen Gemengelage richten sich die interessierten Blicke schon jetzt auf die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007. Die Erwartungen an Berlin sind hoch, als zentrale Macht Europas die Richtung zu zeigen, ohne dabei auf einen "deutschen Weg" der Achsen- und Gegenmachtbildung abzuirren. Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche deutsche Europapolitik ist daher die gegenwärtige Selbstverständigung der Deutschen über sich selbst, über ihr Land und darüber, was Deutsch sein heute überhaupt bedeuten, wie ein deutscher Patriotismus mit europäischem Engagement und Enthusiasmus in Einklang gebracht werden kann.