Einigkeit und Recht und Freiheit und Schwarz und Rot und Gold. Ein warmer sommerlicher WM-Abend in Berlin. Im Stadion singen die Zuhörer entspannt und fröhlich, auf der Straße trägt eine arabische Großfamilie mehrere Fahnen, und im überfüllten Straßencafé fließt das Bier. Nach 90 Minuten gewinnt Klinsmanns Boygroup wieder. Großer Jubel, heftige Umarmungen, türkische Jugendliche in schicken Autos veranstalten ein Hupkonzert entlang der Potsdamer Straße. Das war es. Keiner singt "Deutschland, Deutschland über alles", niemand brüllt "Ausländer raus!" Nicht einmal nach der Niederlage im Halbfinale gegen Italien spürte ich übermäßige Aggressivität. Lediglich einige Zuschauer um den Kiez-TV blickten verwundert auf den deutschen Jungen, der leidenschaftlich für Italien schrie - nur seine italienische Mama nicht.
Bei dieser WM konnte ich gelegentlich zur Nationalelf stehen und den Fußball-Patriotismus amüsiert beobachten. Bedroht hat mich weder die Fahne noch die Hymne, die ebenso wie die israelische auf Begriffe wie "Waffen", "marschieren" und "Blut" verzichtet. Die Deutschen haben sechs Millionen Gründe sich zu schämen. Nicht jedoch wegen der dritten Strophe, nicht einmal für die zweite. Immer mehr deutsche Fans sangen die erste, jedoch unverkrampft und unpolitisch. Mit dem Bekenntnis zum Vaterland von einst hatte dies jedenfalls nichts zu tun. Zumal manche weibliche Fans sich nackt die Flagge um den Körper schlangen, was jeden Nazi erschrecken würde. Außerdem hatte die deutsche Elf an diesem Abend den Sieg verdient, weil sie einen offensiven Fußball spielte.
Drei Viertel der Bevölkerung liebt Deutschland und zwei Drittel sind stolz, Deutscher zu sein. Obwohl ich es besser finde, wenn Menschen auf ihre eigenen Errungenschaften stolz sind, schätze auch ich die deutsche Demokratie, die Zuverlässigkeit und die Gründlichkeit, den Zivildienst, die Radwege und die Mülltrennung. Dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen auf das kulturelle Erbe der deutschen Dichter, Schriftsteller und Komponisten stolz ist, kann ich verstehen. Dass sie die Leistungen ihrer Wissenschaftler und der Organisatoren der Fußball-Weltmeisterschaft würdigen, ebenso. Auch ich bin froh darüber, dass deutsche Soldaten im Libanon der Bedrohung Israels durch die terroristische Hisbollah entgegenwirken, indem sie den Waffenschmuggel unterbinden. Schade nur, dass manche Volksvertreter Israels Sicherheit lediglich durch Sonntagsreden zu garantieren bereit sind.
Dass junge Deutsche ihren Patriotismus vor allem auf den WM-Auftritt zurückführen, beunruhigt mich ein wenig. Der Ball ist rund und Wunder passieren bekanntlich eher in Bern. Und was wird, wenn die Nationalelf demnächst nur noch verliert? Wird die Vaterlandsliebe auch verschwinden? Die Hauptstadt hat gerade gewählt. Auf die Ergebnisse können die Berliner zu recht stolz sein. In Jerusalem regiert ein orthodoxer Bürgermeister, der sich geweigert hat, die jährliche Christopher-Street-Parade zu fördern. Nur einzelne Araber haben an den Wahlen teilgenommen, sie sind im Stadtrat nicht vertreten. In Berlin hingegen wurden mehrere Ausländer ins Abgeordnetenhaus gewählt, manche sogar direkt.
Der Fußballpatriotismus verstellt nicht den Blick auf die Judenvernichtung. Jeder vierte Berliner Zehntklässler besuchte bereits das Jüdische Museum. Manche Jugendliche kommen nicht nur mit ihrer Schulklasse, sondern privat in kleinen Gruppen, denn viele von ihnen kennen keine Juden und sind daher neugierig. Gerade die zeitliche Distanz ermöglicht einen interessierten Blick, der frei ist von persönlicher Schuld. Es sind diese jungen Deutschen, die es auch immer mehr Israelis erleichtern, zum ersten Mal deutschen Boden zu betreten. Auf den Straßen Berlins hört man inzwischen zunehmend Hebräisch.
Der Autor ist Deutschland-Korrespondent des Jerusalem Report, Berlin.