Deutschland hat einen langen Weg zurückgelegt. "Nie wieder Deutschland!" war das Motto einer ganzen Nachkriegsgeneration: "Angesichts einer Geschichte wie der unseren ist der Patriotismus für immer verboten. Worauf könnten wir nach Auschwitz noch stolz sein?" Das hörten Franzosen an jeder Straßenecke, sobald sie den Rhein überquerten. Auf die Frage: "Sind Sie stolz, ein Deutscher zu sein?" lautete die Standardantwort: "Wie sollte ich auf ein Land stolz sein, in dem ich durch Zufall geboren bin? Ich bin stolz auf das, was ich geleistet habe, aber doch nicht auf meinen Pass." Das Thema war tabu, das Gelände vermint. Noch vor nicht allzu langer Zeit gehörte es in den Kreisen der unabhängigen Linken zum guten Ton, bei den großen Sportveranstaltungen die gegnerische Mannschaft zu unterstützen. Wir Ausländer trauten unseren Augen nicht. Ein solches Misstrauen gegenüber patriotischen Gefühlen war absurd. 60 Jahre nach Kriegsende hatten die Deutschen ihre demokratischen Fähigkeiten längst bewiesen, und sie hatten die Wiedervereinigung geschafft, ohne bei ihren Nachbarn Furcht auszulösen. Deutschland musste sich nicht mehr beweisen - ein stabiles und wirtschaftlich starkes Land, das sein Engagement für Europa schon unzählige Male belegt hatte.
Der typische Deutsche klammerte seine nationale Identität aus. Er war zunächst einmal Bayer oder Schwabe. Als nächstes beteuerte er voll Enthusiasmus seine Identität als Europäer. In seiner Unsicherheit schielte er ständig nach den Nachbarn. Die blinde Begeisterung für Frankreich gehörte zu den typischen deutschen Charakterzügen. Was sexy, intelligent, elegant war, konnte nur aus Frankreich kommen. Was schwerfällig und unbeholfen war, war natürlich deutsch. Und heute kann man es offen eingestehen: Mit ihren Selbstzweifeln waren die Deutschen von gestern ziemlich nervig.
Das plötzliche Aufblühen der Fahnen, wie wir es bei der Fußballweltmeisterschaft erlebt haben, erscheint uns deshalb völlig legitim. Wie viele Engländer haben sich nach der letzten Nacht der Proms in der Royal Albert Hall nicht schon die Wangen mit Nationalfarben bemalt? Und wer findet etwas daran, wenn die Franzosen am 14. Juli auf den Champs Elysées ihre Fähnchen schwenken? Während die französischen Staatspräsidenten sich seit Generationen an nationalem Pathos berauschen und ihre Reden eine einzige Eloge auf Frankreich sind, löst der deutsche Präsident eine wochenlange Diskussion aus, wenn er auch nur zu sagen wagt, er liebe sein Land. Alles, was uns anderen Europäern normal und liebenswert erschien, war den Deutschen verboten.
"Neurotisches Verhalten", "chronischer Selbsthass", so lautet heute die Analyse einer Armada von Psychologen, die die deutsche Seele sondieren sollen. Doch plötzlich ist seit ein paar Monaten die Selbstliebe bei den Deutschen in Mode. Von einer Minute zur anderen scheinen die Deutschen bei der Entdeckung ihrer eigenen Reize und zahlreichen Tugenden ebenso viel Verbissenheit an den Tag zu legen wie bei ihrem Selbsthass, den sie 60 Jahre gepflegt haben. Zwischen dem Leitmotiv "Du bist Deutschland" und der Kampagne "Deutschland, Land der Ideen" hat sich alles, was in diesem Land die Marketingstrategien anführt, den Kopf zerbrochen, um Deutschland in den Augen der Welt einladend und fröhlich erscheinen zu lassen. An Versuchen, sich selbst zu definieren, herrscht kein Mangel. Florian Langenscheidt gibt ein umfassendes Kompendium "Das Beste an Deutschland" heraus und nennt den Deutschen 250 Gründe, auf das eigene Land stolz zu sein. Sie reichen von der kleinen blauen Niveadose und der Brezel über die Anzüge von Hugo Boss und die Birkenstocksandalen bis zu Günter Grass und Boris Becker. Man stelle sich einmal vor, die französische Identität würde sich von den Michelinreifen, dem Senf Amora, Bernard-Henri Lévy und Gérard Depardieu ableiten! Franzose und damit zufrieden sein ist dasselbe. Was kümmern einen die Schatten der Vergangenheit. Was kümmert einen die zur Zeit grassierende Identitätskrise. Auf der anderen Seite des Rheins beobachtet man amüsiert, wie sich die Deutschen abstrampeln, um eine gesunde und entspannte Selbstliebe zu entwickeln. Eigenartige Werbekampagne oder wiedergefundener Stolz? Strohfeuer in der Zeit der Weltmeisterschaft oder dauerhafte Entspannung einer traumatisierten nationalen Identität? Manch einer warnt schon vor dem Kater am nächsten Morgen. In diesem Herbst laufen die "neuen Patrioten" Gefahr, mit ihren Wirtschaftsproblemen und ihrer demografischen Krise wieder aufzuwachen. Eins ist gewiss: Eine zwanghafte Selbsterforschung ist das Gegenteil von Entspannung. Ein so nachdrücklich propagierter Patriotismus versteht sich nicht von selbst. Weder Birkenstocksandalen noch Niveacreme können etwas daran ändern: Die Deutschen sind erst dann wirklich "normal", wenn sie aufhören, sich den Kopf zu zerbrechen.
Der Autor ist Deutschland-Korrespondent von Le Point mit Sitz in Berlin. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.