Neulich fand ich in den Sachen von meiner Mutter eine Kiste mit alten Super-8-Filmen, alte Aufnahmen von meinem Großvater, der in den 60er-Jahren ständig mit seiner Filmerei die ganze Familie genervt hatte. Ich hatte die Filme vor Jahren von der amerikanischen Ostküste den ganzen Weg nach Berlin geschleppt. Erst vor ein paar Wochen packte ich sie wieder aus. Dann kaufte ich einen Projektor für zehn Euro auf dem Flohmarkt. Am selben Abend flimmerte die alte Heimat an der Wand in meiner Wohnung. Stratford, Connecticut - eine kleine hübsche Stadt in New England - feierte den 4. Juli, Unabhängigkeitstag. Es war 1968, mitten im Vietnam-Krieg.
Als ich dann über diesen Auftrag, für die deutsche Zeitung "Das Parlament" über den deutschen Patriotismus zu schreiben, nachgedacht habe, wollte ich mich nicht in akademische Analysen verlieren. Also, nichts mit Heinemann oder Habermas. Ich musste über meine Gefühle an dem Abend nachdenken, weil die alten Bilder wieder alte Emotionen in mir geweckt haben. Widersprüchliche Gefühle, was das Land angeht. Die langen patriotischen Züge mit Blaskapellen, die vielen Fahnen überall und die Reihen von alten Veteranen vergangener Kriege. Der Film zeigt auch meinen Onkel, der gerade Heimaturlaub hatte, und erinnert mich daran, dass meine Großmutter weinte, als er wieder nach Vietnam abflog und sie keine schönen Worte für Präsident Johnson hatte. In den Jahren danach erfuhr ich von My Lai. Schöne Kindheitserinnerungen vermischen sich allmählich mit Bildern von Gräueltaten in Vietnam, die jeden Tag in den Nachrichten zu sehen waren. Im Jahr 1976 war ich mit der Schule fertig. Das Jahrbuch meiner High School-Klasse zählt zu den prägenden Erlebnissen von ,Our Times' unter anderem auf: "Watergate, Präsident Nixons Amtsniederlegung, Aufhebung der Todesstrafe, Ende der Verwicklung Amerikas in Vietnam, Tod Francos."
Die Zeit, in der ich in Amerika aufgewachsen bin, lehrte mich, dass das Land vor allem ein uneingelöstes Versprechen ist, das seine Bürger und Bürgerinnen ständig einfordern müssen. Das Land läuft oft in die Irre und braucht Korrektur. Damals wie heute. Als Bürger kann man sich die Geschichte nicht aussuchen, sondern muss mit ihr leben, die dunklen und hellen Seiten als Teil der eigenen Identität akzeptieren und das Versprechen nie vergessen, auch wenn es Leute gibt, die eine ganz andere Republik wollen. Ich habe immer die Liebe zum Land als Verantwortung verstanden, den Fortschritt voranzutreiben.
Ist es für die Deutschen anders? Ich saß während der WM, wie viele Menschen in diesen Tagen, oft in einem Café im Kiez. Das Café heißt ,Weltempfänger' und liegt am Arkonaplatz in Berlin-Mitte. Das Fußballvolk - ein relativ durchmischtes Gebilde von Kreativen, Schauspielern, Musikern, Regisseuren, Anwälten und Arbeitern aus der Nachbarschaft - hatte die Straße erobert und saß vor der Großleinwand. Zum Teil mussten die Leute ihre eigenen Stühle mitbringen. Das ganze Land war zum Stadion geworden. Vor dem letzten Deutschlandspiel, wo es um den dritten Platz ging, stand eine Gruppe von jungen Studentinnen auf und sang die deutsche Nationalhymne leidenschaftlich mit - auf ihren Stühlen stehend. Nach dem Spiel fragte ich sie, warum sie gesungen haben. Mit auf die Wangen gemalten Fahnen und Haaren in den Nationalfarben erklärten sie, dass sie Verantwortung für die deutsche Geschichte fühlen, aber auch stolz seien auf das, was nach dem Krieg aufgebaut wurde. Eine fragte: Warum darf man nicht stolz auf die Bundesrepublik sein? Eine andere: Wir sind stolz auf unser Land, weil es andere nicht ausschließt. Das sind die Kinder der deutschen Einheit, die nicht mit der Teilung, sondern mit einem Versprechen von einer neuen Zukunft aufgewachsen sind. Das hat nicht nur mit der WM zu tun. Wie wunderbar war es, als vor einigen Jahren "Immigrantenkinder" wie Xavier Naidoo und die "Söhne Mannheims" stolz von ihrer Heimat gesungen haben: "Mannheim, meine Stadt!" Das hat mich an Frank Sinatra, Bruce Springsteen oder Woody Guthrie erinnert. Der Patriotismus, die Liebe zum Land, ist weder sentimental noch nur ein steriles Bekenntnis zu Gesetzen. Er lebt dann, wenn die Menschen in ihrem Land Hoffnung auf ein besseres Leben haben. Vielleicht ist das neue Deutschland auch ein Versprechen und die jungen Leute vom WM-Sommer haben die Chance, es einzulösen.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin und schreibt unter anderem für "Business Week" und "Time Magazine".