Der frühere italienische Staatspräsident Francesco Cossiga hat vor etwas mehr als einem Jahr in einem Interview mit einem Südtiroler Magazin die Ansicht geäußert, Österreich als Nation sei eine Erfindung der autoritär-katholischen Ständestaat-Regierung der 1930er-Jahre unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Damit erhielt eine jahrzehntelang schwelende, aber letztlich schon für beendet gehaltene Debatte kurzfristig neue Nahrung. Jeder einigermaßen hellhörige Zeitgenosse musste sich an die Rede von der österreichischen Nation als "ideologische Missgeburt" erinnert fühlen, mit der Jörg Haider seinerzeit für Aufregung gesorgt hatte. Es war dies eine jener gezielten Provokationen, mittels derer der langjährige FPÖ-Chef ab Mitte der 80er-Jahre für etwa eineinhalb Jahrzehnte die politische Szene gehörig aufmischte. Im Kern richteten sich all diese Angriffe gegen den Nachkriegskonsens der Zweiten Republik, die großkoalitionär-sozialpartnerschaftliche "Ästhetik" (Robert Menasse) des Landes, zu der die Herausbildung eines österreichischen Nationalbewusstseins - in Abgrenzung zu Deutschland - ganz wesentlich zählte. Zielsicher berührte Haider dabei immer neuralgische Punkte der österreichischen Befindlichkeit, artikulierte, verstärkte und instrumentalisierte solcherart ein vielfach vorhandenes, diffuses Unbehagen - wodurch er zu Europas erfolgreichstem Rechtspopulisten aufsteigen sollte, ohne dass er freilich für die von ihm aufgezeigten offenen Fragen und wunden Punkte Lösungen anzubieten gehabt hätte.
Tatsache ist, dass die Frage der "österreichischen Nation" fast ausschließlich in Relation zu Deutschland diskutiert wurde - ohne dass das Deutschland seinerseits freilich sonderlich tangiert hätte. "Die Problematik in dieser Beziehung, der Komplex geht ausschließlich von österreichischer Seite aus - gehört uns. Aus dem deutschen Blickwinkel stellt sich das alles viel unkomplizierter dar: Da gibt es höchstens ein kleines Lächeln von oben", bemerkte der österreichische Publizist Peter Huemer im August 2005 in einem Streitgespräch in der österreichischen Wochenzeitung "Die Furche". Und der Wien-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen", Reinhard Olt, sekundierte, man habe sich in Deutschland "viel zu wenig mit den ‚Ösis' beschäftigt" und "keinen Beweggrund gehabt zu sagen: ‚Ihr seid doch eigentlich Deutsche!'"; in Österreich habe man sich "viel intensiver mit dieser Frage auseinandergesetzt".
Entkrampft hat sich diese Debatte durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union im Jahr 1995. Nun war Österreich, gemeinsam mit Deutschland, Teil eines größeren Ganzen; die besondere Relation zum "großen Bruder" im Norden hatte dadurch eine höchst notwendige Relativierung im wahrsten Sinn des Wortes erfahren: ein In-Beziehung-Setzen des Landes zu einem - sich erweiternden und vertiefenden - Staatenbund. In einem wurden damit, so hat es der österreichische Philosoph Rudolf Burger einmal formuliert, das "Ausschluss-Trauma" von 1866/71 - Bismarcks "kleindeutsche Lösung" - und das "Anschluss-Trauma" von 1938 aufgehoben. Mit der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung Euro Anfang 2002 war dann auch die fast mythische Bindung des österreichischen Schilling an die deutsche Mark endgültig obsolet.
Als Seismograph dieser Entwicklungen fungierte einmal mehr Jörg Haider: Er und seine FPÖ trugen den sich verändernden Rahmenbedingungen Rechnung, indem sie ihre deutschnationalen Wurzeln sukzessive verkümmern ließen und sich - durchaus erfolgreich - als die Österreich-Partei neu positionierten. "Österreich zuerst" lautete das Motto, unter dem österreichische Interessen gegen die feindliche Welt im allgemeinen und "Brüssel" im besonderen verteidigt werden sollten. Heute, elf Jahre nach dem EU-Beitritt, zwei Regierungsbeteiligungen und eine Parteispaltung der FPÖ später (Haider gründete eine neue Partei namens BZÖ - Bündnis Zukunft Österreich, die in der Regierung verblieb), versucht sich Haiders Nachfolger auf diesem Klavier: als "Der Patriot" ließ er sich zuletzt im Wahlkampf für die Nationalratswahlen am 1. Oktober plakatieren. Elf Prozent erzielte er damit - nimmt man noch die vier Prozent der Haider-Partei BZÖ dazu, die im wesentlichen die selbe Klientel bedient, so kommt man auf 15 Prozent Anhänger einer solchen Richtung; 1999 hatte die - damals noch nicht gespaltene - FPÖ 27 Prozent erzielt.
Ist also Österreich ein ganz "normales" Land geworden? Fest steht, dass die einst heftig umstrittene "österreichische Nation" heute im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger Realität ist, sie hat, so könnte man sagen, just im EU-Kontext zu sich selbst gefunden. Einwürfe wie jener Cossigas hätten vor zehn, 20 Jahren noch ganz andere Wellen geschlagen. Aber so etwas wie ein entspannter, unverkrampfter Patriotismus, wie er sich etwa in Deutschland anlässlich der Fußball-WM manifestierte und anderen Ländern sowieso geläufig ist, will sich in Österreich nicht so recht herausbilden. Zum einen fällt uns nach wie vor der Umgang mit nationalen Symbolen - Fahne, Bundeshymne, Nationalfeiertag - schwer: Das hat oft etwas Operettenhaftes, droht leicht ins Lächerliche zu kippen, berührt bisweilen peinlich. Man kann darin den viel gepriesenen Charme der österreichischen Unernsthaftigkeit sehen - aber auch den Ausdruck einer offensichtlich doch tief sitzenden Unsicherheit. Zum anderen aber bordet der Patriotismus zu bestimmten Anlässen ganz ordentlich über: Jeder, der einmal die Übertragung eines Weltcup-Skirennens im österreichischen Fernsehen gesehen hat, weiß, wovon die Rede ist. In Ausnahmesituationen funktioniert zudem der "Wir gegen die da draußen"-Reflex noch immer ganz gut. Besonders deutlich war dies anlässlich der EU-Sanktionen gegen Österreich im Gefolge der FPÖ-Regierungsbeteiligung zu spüren: Dass die Maßnahmen der EU der 14 überzogen, heuchlerisch und politisch falsch waren, ist das eine - die dadurch entstandene und zusätzlich geschürte "Nationale Schulterschluss"-Stimmung irritierte dennoch viele sensible Geister.
Als besonders hübsche Pointe zum Thema lässt sich die jüngste Gründung auf dem österreichischen Zeitungsmarkt lesen: ein zeitgeistiges, an internationalen Vorbildern orientiertes Boulevardblatt mit dem Namen, jawohl, "Österreich". So kommt der Patriotismus plötzlich ganz ideologiefrei daher: "Österreich liest ‚Österreich'", heißt es - und der Gründer und Herausgeber hat keine Skrupel, eine tägliche Kolumne unter dem Titel "Das sagt Österreich" zu verfassen, in der er Meinungshäppchen mit Eigen-PR vermengt. Nur Zyniker würden indes behaupten, dass "Österreich" Österreich auf den Punkt bringt.
Der Autor ist Chefredakteur der österreichischen Wochenzeitung "Die Furche", Wien.