Beim "cafe de commerce" - beim kleinen schwarzen Kaffee am Morgen in der Bar schimpfen sie über ihre Politik und über die eigenen Landsleute: "Wissen Sie, die Franzosen sind so! Anarchisch, ohne Disziplin, einfach unregierbar." Das eigene Land und die Kultur - also ihre Geschichte, Kunst, Literatur, Film und Lebensart, sind dagegen nationale Heiligtümer. Sie werden von ganzem Herzen verehrt. Ein Beispiel dafür sind die guten Geschichtskenntnisse, die in Frankreich natürlich wesentlich weiter zurückreichen als in Deutschland - nämlich bis zu Karl dem Großen.
Unsere französischen Freunde kennen sich bestens aus in der französischen Monarchie: Die Capets und Bourbonen gehören zum Allgemeinwissen. Franzosen schwelgen in den Erinnerungen an den Hof des Sonnenkönigs und besuchen die sterblichen Überreste von Ludwig XVI. und seiner Frau Marie-Antoinette in der Kirche von Saint-Denis, die bekanntesten Opfer auf dem Schafott der französischen Revolution.
Es erschien den meisten ganz selbstverständlich, als der französische Kulturminister Jacques Lang in den 90er-Jahren "Gedenktage an das patrimoine" ( Vaterlandserbe) einführte. An einem Septemberwochenende öffnen sich die Pforten der französischen Kulturstätten - Museen, Schlösser, öffentliche Gebäude - und gewähren dem Publikum freien Zutritt. Jedes Jahr empfangen der Staatspräsident Chirac und seine Gattin Bernadette im Elysée tausende Besucher. Besonders gerne besichtigen die Franzosen auch ihre Schlösser. Mit besonderer Hingabe werden diese architektonischen Zeitzeugen der Feudalzeit, der die Revolution eigentlich den Garaus machen wollte, gepflegt.
Patriotisch sind die Franzosen auch im Fußball. Während der jüngsten Weltmeisterschaft in Deutschland konnte man mit Erstaunen sehen, dass keine Nachrichtensendung im Fernsehen ohne einen Bericht über den Trainingszustand, das Quartier oder das Wohlbefinden der französischen Equipe auskam. Ganz gleich, was Wichtiges in der Welt geschah, "les bleus" waren stets das erste Thema. Mit einem einzigen Bericht war es nicht getan, mindestens drei Reportagen mussten es sein - wohlgemerkt in einem Nachrichtenmagazin und zwar an erster Stelle.
Einen besonderen Patriotismus pflegen Franzosen beim Essen. Le "patriotisme culinaire" treibt gelegentlich seltsame Blüten. Der französische Ehemann einer Österreicherin verlässt sein Land nicht ohne eigene Vorräte. Bei jedem Besuch in der Heimat seiner Frau wird das Auto vollgepackt: französischer Champagner, Wein aus Burgund, Olivenöl aus Korsika, Käse aus der Normandie, ja sogar der Joghurt muss von einem französischen Hersteller sein. Einzig die österreichische "Sachertorte" findet Gnade vor seinem Gaumen. "Die schmeckt ja wirklich nach Schokolade", wundert sich der Pariser Gourmet und macht deutlich dass es sich dabei um eine Ausnahme handelt. Als eine deutsche Weinkennerin aus Wiesbaden ihren französischen Gästen Biowein vom Rhein einschenkte, verzogen die Gäste das Gesicht. Deutsch und Bio - eine Zumutung! "Interessant", war die erste Reaktion. Und ob man beim nächsten Glas wieder auf einen Burgunder umsteigen könne...?
Auch beim Reisen bleiben die Franzosen am liebsten im eigenen Land. Frankreich hat ja auch alles, was ein Freizeitherz begehrt: Berge, Wälder, Strände, so reichlich, dass kaum etwas zu wünschen übrig bleibt. Und wenn es schon Exotik sein soll, fliegt man auf die französischen Antillen, nach Tahiti oder Neukaledonien. Dort spricht die Urbevölkerung Französisch - ein Ergebnis der strengen Schul- und Kulturpolitik während der Kolonialzeit. So fühlt man sich auch in Übersee zuhause. Reisen in die Nachbarländer sind weniger begehrt bei den Franzosen. Dies scheint sich erst in der jüngeren Generation zu ändern. Dieser Reise-Vergleich ist jedenfalls aufschlussreich: Wir Deutsche reisen im Schnitt 15-mal öfter nach Frankreich, als die Franzosen zu uns.
Und dann das leidige Sprachproblem! Vor allem unter den über 50-Jährigen hält sich die Vorstellung, dass Französisch eigentlich die erste Weltsprache sein sollte. Das geht so weit, dass Ausländer ohne Französisch-Kenntnisse in Paris kaum Kontakte bekommen. Von flüchtigen Alltagsszenen abgesehen, lassen sich Pariser meist nur ungern auf eine Unterhaltung auf Englisch ein. Wer sprachlich nicht auf ihrer Höhe ist, bekommt das schnell zu spüren. Höflich aber bestimmt wenden sich Franzosen französischen Gesprächspartnern zu. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür bot Staatspräsident Jacques Chirac. Als der Ex-Präsident des französischen Unternehmerverbandes MEDEF Ernest-Antoine de Seilliere vor eineinhalb Jahren in der europäischen Kommission in Brüssel eine Rede in Englisch hielt, verließ das ebenfalls anwesende französische Staatsoberhaupt aus Protest den Saal. Es gehöre sich nicht für einen Franzosen in Brüssel Englisch zu sprechen, lautete Chiracs Erklärung.
Mit besonderer Akribie verfolgte auch der französische Minister für Kultur und "Frankofonie" (französisches Kulturgut) in den 90er-Jahren den Plan, Französisch nicht durch Anglizismen verunreinigen zu lassen. Jacques Toubon sprach eine verbindliche Empfehlung für Schulen, Verwaltungen und Presseorgane aus. Es seien französische Begriffe zu benutzen, hieß es. Die haben sich bis heute gehalten: Statt "computer" benutzt man hier das Wort "ordinateur" und statt "E-Mail" sagen die Franzosen "couriel". Und an Stelle der deutschen Power-Frau, spricht man in Frankreich lieber von einer "femme de pouvoir".
Franzosen neigen - was ihr Land angeht - nicht zu Selbstzweifeln. Zumindest nicht nach außen. So ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte auch ein nicht immer einfaches Kapitel. Als Jacques Chirac 2005 entschied, einen Gedenktag für die Opfer der französischen Kolonialzeit einzurichten, gab es vielfältigen Widerspruch. Vielen ging das Eingeständnis, Frankreich habe während des Kolonialismus Verbrechen begangen, zu weit. Es sei doch eher ein großes Glück für die Kolonien an den reichen kulturellen Früchten Frankreichs teilhaben zu können... Was sind dagegen schon die Opfer der Sklaverei?
Offene patriotische Töne gibt es in Frankreich immer dann, wenn ein Juwel der französischen Wirtschaft in ausländische Hände zu fallen "droht". Als Gerüchte auftauchten, der amerikanische Pepsi-Konzern wolle den Milchprodukt-Hersteller "Danone" schlucken, hat die französische Regierung sofort interveniert. Der Wirtschaftsminister versprach: "Danone" bleibe französisch. Und Pepsi zog sich zurück. Jüngstes Beispiel ist die Übernahme des Stahlriesen Arcelor, der vom indischen Unternehmer Mittal aufgekauft wurde. Zu Anfang widersetzte sich das Unternehmen dem Übernahmebegehren mit kräftiger Unterstützung der französischen Regierung. Premierminister Dominique de Villepin prägte den Ausdruck des "patriotisme economique". Schließlich kam es doch zum Verkauf - das Angebot des indischen Unternehmers war zu reizvoll für die französischen Aktionäre, doch immerhin blieb die Unternehmensspitze in französischer Hand - und der Schein gewahrt.
Trotz einiger Auswüchse, hat der französische Patriotismus manch Gutes. Er schafft ein eigenes Identitätsbewusstsein. Franzosen verteidigen ihre Werte und Vorstellungen - sie sind da kaum manipulierbar. In Paris ist man längst nicht so schnell bereit, europäische Regeln und Ideen ohne weiteres zu akzeptieren. Für Brüssel sind die Franzosen gelegentlich nicht ganz zu Unrecht ein Graus. Und doch gibt es Beispiele, wo unsere französischen Partner - zum Glück - einen längeren Atem bewiesen haben. Ein solches Beispiel ist der Schutz ihres Kulturgutes, die so genannte "l´exception francaise". Anstatt alles dem freien Markt und damit dem Ausverkauf zu überlassen, gibt es hier eine Schutzquote für französische Produkte. Etwa im Medienbereich, also bei Musik, in der Spiel- und Kinofilmproduktion. Die französische Filmindustrie wird über die Einnahmen des Fernsehens mitfinanziert. Im Radio muss ein bestimmter Anteil französischer Musikproduktionen gesendet werden.
So kommt es, dass zum Beispiel einzig die französische Filmindustrie in der Lage ist, dem übermächtigen Kommerzkino Hollywoods etwas entgegenzusetzen. In Deutschland hat man lange Zeit in den amerikanischen Film investiert und die zeitweilig sehr erfolgreiche eigene Filmwirtschaft vernachlässigt. Die entsprechenden deutschen Steuersubventionen für Hollywood wurden nach vielen Protesten erst vor kurzem abgeschafft.
Doch der immer noch beste Beweis für den französischen Patriotismus sind die ersten Worte in der Marseillaise: Da heißt es ganz einfach: "Allons, enfants de la patrie..." Auf, Kinder des Vaterlandes...!
Die Autorin ist Leiterin des ARD-Studios Paris.