Bisher ist es die Ausnahme, dass die Polen über ihren Patriotismus sprechen. Anders als die Deutschen, die sich bei jeder Gelegenheit von allen Seiten betrachten. Östlich der Oder führt man Debatten über Themen, die patriotische Gefühle ansprechen. So versuchen die Medien regelmäßig, das Volk zu alarmieren, weil Hunderttausende junger Polen Arbeit im westlichen Ausland suchen. Besorgt fragen sie: "Kommen die Unsrigen je wieder heim?" Heimatliebe ist für die meisten Polen selbstverständlich. Die Nation ist im Vergleich zu westeuropäischen Ländern nahezu homogen. Mehr als 90 Prozent der Polen sind katholisch und noch ist die Einwanderung kein Thema der Innenpolitik. Die Polen mussten noch keine Leitkultur-Debatte über sich ergehen lassen. Ihren Patriotismus stärkt die Verbundenheit mit der leidvollen Geschichte des polnischen Volkes.
Das Geschichtsbewusstsein der Polen reicht noch weit zurück, über die Blütezeit des Staates. Nostalgisch erinnern sie sich an das "goldene Zeitalter" im 16. Jahrhundert. Das Staatsgebiet war nach Osten hin riesig und mit Litauen unter dem Geschlecht der Jagiellonen vereint. Renaissance und Humanismus verbreiteten sich wie im westlichen Europa. Doch nachdem die Jagiellonen-Dynastie ausgestorben war, wurde der Niedergang des Staates eingeleitet. Die Adelsrepublik schaffte es mit ihrer instabilen Wahlmonarchie im 18. Jahrhundert nicht, das Land auf Dauer zu einen. Es wurde Opfer mehrerer Teilungen und zum ständigen Spielball der europäischen Großmächte: Preußen, Österreich und Russland.
In dieser Zeit der mehr als 100 Jahre dauernden Fremdherrschaft sollte die Literatur dafür sorgen, die nationale Identität der Polen zu sichern. Den Romantiker Adam Mickiewicz, Autor des berühmten Versepos "Pan Tadeusz", umweht der Ruhm eines Nationalhelden. Ohnehin macht sich die Vaterlandsliebe der Polen immer wieder an den großen Taten Einzelner fest.
Erst nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1918 erlangte Polen endlich die lang ersehnte Unabhängigkeit. Der Held der Stunde hieß Marschall Józef Pilsudski, der die Staatsgrenzen von früher anstrebte und das Land nach innen "genesen" lassen wollte. Doch die polnische Freiheit währte nur kurz: Adolf Hitler und Josef Stalin schlossen den Pakt, der Polen erneut aufteilte.
Was mit dem Überfall der Deutschen auf Polen im September 1939 für die Welt als Beginn des Zweiten Weltkriegs in die Geschichte eingegangen ist, markierte für Polen den Beginn einer Zeit des Horrors. Das Thema der deutschen Besatzungszeit ruft bis heute heftige Emotionen hervor, da es kaum Polen gibt, die keine Opfer in ihrer Familie zu beklagen hätten.
Dieses Kapitel der Geschichte hat zahllose tragische Helden. Der Warschauer Aufstand, der im August des Jahres 1944 aus dem polnischen Untergrundstaat gegen die deutschen Nationalsozialisten losbrach und schnell brutal niedergeschlagen wurde, ragt durch Mut und Aufopferung seiner Teilnehmer besonders heraus. Die Regierung erinnert nicht nur an runden Jahrestagen mit pompösen Veranstaltungen in der Hauptstadt daran.
In der kulturellen Dimension des Patriotismus war die Autonomie der Polen nie angetastet. Die Kulturnation hielt stets an den eigenen Werten und Traditionen fest, auch in den langen Perioden der Fremdherrschaft wie zuletzt unter der Sowjetunion. Viele Familien verabscheuten die sowjetischen Besatzer und erzogen ihre Kinder in dem Sinne: "Seid stolz auf unsere Sprache, auf unseren Glauben und unsere Schriftsteller, Regisseure und Musiker! Das jedenfalls kann uns niemand nehmen!"
Die katholische Kirche war - schon unter Kardinal Wyszynski und besonders seit der Krakauer Erzbischof Karol Wojtyla im Jahr 1979 zum Papst gewählt wurde - eine Identität stiftende Zuflucht vor dem Sozialismus. Sie einte die unterdrückte Nation. Der Papst spendete den Oppositionellen der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in den 80er-Jahren geistige Kraft. Unter der Führung von Lech Walesa brachte die Solidarnosc das sowjetische Imperium mit zu Fall. Für diesen Befreiungskampf vermissen viele Polen bis heute die Anerkennung der westeuropäischen Völker.
Über Jahrhunderte sind kollektive Gefühle der Minderwertigkeit gewachsen. Ein Nährboden für Frust und Wut konnte entstehen. Und darauf streuen einige Medien in ihrer Übertreibungslust immer neue Samen. Sobald es um die ehemaligen Feinde Deutschland oder Russland geht, heizen erzkatholische und nationalistische Medien, aber auch gängige Boulevardblätter oder Wochenmagazine die Stimmung an. Sie wecken historische Urängste und schüren nationalistische Ressentiments.
Diese Töne finden bei ärmeren Bevölkerungsschichten Anklang, besonders im östlichen Raum, auf dem Land, wo die Wendeverlierer leben, die mit der rapiden Transformation nicht Schritt halten können. Genau hier hat auch die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ihre meisten Wähler.
Dass ein übertriebener Nationalismus Polen in Europa nur schaden kann, kommentieren junge Polen oft mit einem frustrierten Achselzucken. Sie wollen einen selbst reflektierten Patriotismus, keine Selbstbeweihräucherung. Als selbstbewusste Europäer, die Fremdsprachen sprechen, die sich ihrer reichen Kultur bewusst sind, sich über ihre Ostseestrände, die Masurischen Seen und die Berge der Tatra freuen, kurz: ihre Heimat lieben, schämen sie sich für die antieuropäisch wirkende Regierung. Wütend demonstrierten tausende Schüler und Studenten kürzlich landesweit gegen die Pläne des Bildungsministers, an den Schulen das Fach "Patriotismus" einzuführen. Die Stimmen von Künstlern und Intellektuellen, die den "neuen Patriotismus" kritisieren, mehren sich. Er habe nichts mit der Liebe zum Vaterland zu tun. Vielmehr breite sich das Bestreben aus, besser zu sein als andere Nationen und Minderheiten auszugrenzen.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Warschau und Hamburg.