Eigentlich schien alles klar zu sein mit dem "geordneten Ausstieg" aus der Atomenergie. Auf verbindliche Restlaufzeiten für die seinerzeit 19 noch am Netz befindlichen deutschen Kernkraftwerke verständigten sich vor sechs Jahren die vier Energiemultis und die damals rot-grüne Bundesregierung im so genannten Atomkonsens. Bis 2020 sollte Schluss sein mit der "Steinzeit-Technologie". 2002 wurde der Atomausstieg in Gesetzesform gegossen. Zwei Kernkraftwerke - Obrigheim und Stade - wurden bereits abgeschaltet. Doch beim dritten hat der Energiekonzern RWE Power es sich, ermuntert von den hessischen Christdemokraten und Liberalen, nun anders überlegt und ausgerechnet für Biblis A, dem derzeit ältesten und wohl umstrittensten AKW in Deutschland, eine Laufzeitverlängerung beantragt. Biblis A und auch der Nachbarreaktor Biblis B stehen gerade auf unabsehbare Zeit still, weil in jedem der beiden Kernkraftwerke bis zu 4.000 Dübel untersucht werden müssen, die möglicherweise falsch montiert wurden. Vor knapp zwei Wochen war es im Reaktor B erneut zu einer Störung gekommen.
Der RWE-Antrag hat die Debatte um die friedliche Nutzung und die Rolle der Kernenergie im Energiemix nun erneut entfacht. Die FDP sieht in ihm sogar einen Lackmustest: "Dieser Antrag ist jetzt ein Symbol, ob Deutschland in der Lage ist, ideologiefrei Wirtschaftspolitik zu betreiben", erklärte der hessische FDP-Vorsitzende Jörg-Uwe Hahn. Sollte die Union in der Frage der Laufzeitverlängerung für Biblis A in Berlin scheitern, so Hahn, werde es einen "Patchwork-Bettvorleger aus Roland Koch und Michael Glos" geben. Denn die Frage, ob das 1976 in Betrieb genommene AKW wie von RWE beantragt (statt bis 2008) noch bis 2011 Strom produzieren darf, muss nach dem Atomausstiegsgesetz das Bundesumweltministerium im Einvernehmen mit dem Bundeskanzleramt und dem Bundeswirtschaftsministerium entscheiden - in Zeiten der großen Koalition eine heikle Gemengelage.
Rechtlicher Kniff soll laut dem RWE-Antrag die im Gesetz vorgesehene Übertragung von Reststrommengen von einem auf ein anderes Atomkraftwerk sein. Vorgesehen ist die Übertragung in der Regel von älteren auf jüngere Reaktoren, andernfalls bedarf es der Zustimmung des Bundesumweltministers im Einvernehmen mit der Bundeskanzlerin und dem Wirtschaftsminister.
Der Energiekonzern will nun eine Elektrizitätsmenge von 30 Terrawattstunden von dem lediglich im Probebetrieb gelaufenen rheinland-pfälzischen AKW Mülheim-Kärlich auf Biblis A übertragen. Der Weiterbetrieb von Biblis A, so RWE, sei aus "wirtschaftlicher, unternehmerischer und volkswirtschaftlicher Sicht geboten. Nach Angabe der Grünen bringt die geplante Laufzeitverlängerung für die längst abgeschriebene Anlage dem Unternehmen 1,2 Milliarden Euro. Eine Strommengenübertragung von Mülheim-Kärlich jedoch ist laut Anlage drei des Atomausstiegsgesetzes nur auf die Reaktoren Emsland, Neckarwestheim 2, Isar 2, Brokdorf sowie Grundremmingen B und C vorgesehen. Aus diesem Grunde soll die Reststrommenge laut RWE-Antrag "hilfsweise" aus dem AKW Emsland übertragen werden.
Über die Rechtskraft von Anlage drei streiten sich nun die Geister. So sehen Grüne und SPD im Vorgehen von RWE gleich einen "doppelten Vertragsbruch". Zum einen kündige das Unternehmen den Atomkonsens auf, zum anderen verstoße es gegen das Atomgesetz. "Es ist geradezu absurd, dass RWE ausgerechnet an diesem ältesten und störfallanfälligsten Reaktor den auch von ihr unterschriebenen Atomkonsens aufkündigt", sagt der Fraktionschef der Grünen, Tarek Al Wazir. Biblis A über die im Atomkompromiss vereinbarten Laufzeiten hinaus laufen zu lassen, ist auch für die hessische SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti nicht nur aus Sicherheitsgründen verantwortungslos. Der RWE-Antrag sei auch eine "gezielte politische Provokation".
Die Störfallanfälligkeit von Biblis A ist in Hessen beinahe Legende. 375 "meldepflichtige Zwischenfälle" waren es nach Angaben der umweltpolitischen Sprecherin der Grünen, Ursula Hamann. Das Kraftwerk gehöre zudem zu den am schlechtesten gegen Terrorangriffe geschützten Reaktoren. Umweltminister Wilhelm Dietzel und sein Kabinettschef Roland Koch halten dem Stromkonzern trotz zahlreicher Störfälle die Treue. Beide werden nicht müde zu betonen, dass die politische und gesetzliche Festlegung auf den Atomausstieg nach ihrer Auffassung eine Fehlentscheidung war. "Laufzeiten von Kernkraftwerken sollten sich primär nach den Erfordernissen der Sicherheitstechnik, des Klimaschutzes und der Volks- und Betriebswirtschaft richten", findet Dietzel. "Biblis A war immer sicher und ist sicher", sagt der CDU-Minister, unter dessen Regie seit 1999 insgesamt 82 Genehmigungen erteilt wurden für sicherheitserhöhende Maßnahmen mit einem Gesamtvolumen von 500 Millionen Euro. CDU und FDP verweisen außerdem darauf, dass die beiden Reaktoren in Biblis 60 Prozent des Strombedarfs in Hessen produzieren - eine Menge, die nach ihrer Überzeugung durch regenerative Energien nicht aufzufangen ist - den CO2-Ausstoß verringern und einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor in der Region darstellen. Das Klimaproblem mit Atomkraft zu lösen, bedeutet nach Auffassung der Grünen jedoch, "den Teufel mit Belzebub austreiben zu wollen". Wenn Biblis A "hoch gehe", erklärt auch SPD-Chefin Ypsilanti, entstünde in der Großregion um das Kraftwerk ein Schaden in Höhe von 4,5 Billionen Euro.
CDU und FDP warten nun auf eine "zügige und ideologiefreie" Entscheidung aus Berlin. Angela Merkel solle, so FDP-Chef Hahn, die Angelegenheit zur Chefsache machen und Umweltminister Sigmar Gabriel seine Entscheidungskompetenz wegen Befangenheit abgeben. Befürwortern wie Gegnern der Kernenergie dürfte jedenfalls dürfte klar sein, dass der Fall Biblis A Pilotfunktion haben könnte. Auch der Stromversorger EnBW will für sein Kernkraftwerk Neckarwestheim 1 eine längere Laufzeit beantragen und RWE-Chef Jan Zilius hält mit seiner Strategie ebenfalls nicht hinter dem Berg. Das Unternehmen wolle, so Zilius, einen Rahmen dafür schaffen, dass nach dem Bundestagswahljahr 2009 "eine langfristige Entscheidung für Kernenergie möglich ist".