Verheugen: Paradigmenwechsel in der Lissabon-Strategie für Europa
Berlin: (hib/WOL) Nach der erfolgreich abgeschlossenen EU-Erweiterung ist ein Paradigmen-wechsel zur erfolgreichen Durchsetzung der Lissabon-Strategie für Europa erforderlich, sagte Günter Verheugen (SPD), neuer Vizepräsident der EU-Kommission, am Mittwochnachmittag im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Die bisherige Lissabon-Strategie - mit dem Ziel, die EU zum mächtigsten Wirtschaftsblock der Welt zu formen - sei "zu zerfasert" gewesen. Es habe zu viele Ziele und zu viele Prioritätensetzungen gegeben. Statt der bisher 14 Oberziele, 120 Unterziele, 130 Indikatoren und 300 Berichte zu Lissabon werde es ein großes Leitlinienpaket geben. Unterhalb dieses Paketes sollen 25 individuell maßgeschneiderte Aktionspläne für alle EU-Mitgliedstaaten als Grundlage für die nationale Umsetzung erarbeitet werden. Es sei Konsens erzielt worden, dabei in einem Dreijahresrhythmus vorzugehen. Im ersten und im zweiten Jahr soll es jeweils einen Fortschrittsbericht von allen 25 Mitgliedstaaten und im dritten Jahr eine umfassende Gesamtbewertung der Maßnahmen und der erreichten Ziele geben. Mit dieser Herangehensweise und einer entsprechenden Kompetenzverteilung erwarte die EU-Kommission eine "dramatische Reduzierung der Gesamtbelastung". Ziel sei es, "das Lissabon-Paket attraktiv, transparent und handhabbar zu machen" und in den nationalen Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten den notwendigen Druck für Lissabon zu erzeugen, sagte Verheugen.
Der Vizepräsident der EU-Kommission ging in seinen Antworten auf die Fragen des Ausschusses auch auf die enormen Herausforderungen hinsichtlich der Finanzierung, der zeitlichen Fristen und der erforderlichen Strukturveränderungen ein, die angesichts erstarkender Wirtschaftsblöcke in Asien - mit China und Indien - und in Lateinamerika zu erwarten seien. Nicht nur für Deutschland sei die deutliche Heraufsetzung des EU-Gemeinschaftshaushaltes eine starke Belastung. Eng sei auch das Zeitfenster für die Festsetzung der Finanziellen Vorausschau. Verheugen nannte dazu das Referendum in Frankreich über die Europäische Verfassung, die Wahlen in Großbritannien Anfang Juni und die Notwendigkeit, einen Kompromiss vor den deutschen Wahlen 2006 zu errei chen. Zur Frage der häufig kritisierten Bürokratie durch den europäischen Einigungsprozess erklärte er, mit EU-weiten Regelungen sei nicht unbedingt eine Minderung der Gesetzgebung zu erwarten. Dennoch solle sie durch ein Folgenabschätzungsverfahren effektiver werden. Verheugen sprach auch die deutsche Umsetzung des EU-Binnenmarktes und die Rolle des deutschen Föderalismus an. Die nationale Umsetzung der EU-Gesetzgebung gleiche einem Pferd, dem nach Durchlaufen der Ausschüsse des Bundesrates "soviel draufgesattelt" worden sei, dass es "danach als Kamel mit zwei Höckern im Bundesgesetzblatt" stehe. Insgesamt gelte es, so Verheugen, Problembereiche sachorientiert zu lösen - so könne man nicht am Montag die freie Marktwirtschaft proklamieren und am Freitag den EU-Protektionismus fordern. Auch die Defizitgrenze bleibe bei drei Prozent, die Kommission erhalte aber mit Blick auf Wachstum und Stabilität größeren Spielraum bei der Bewertung von Einnahmen und Ausgaben. Völlig undogmatisch sei die EU-Kommission in der Frage der Dienstleistungsrichtlinie im Hinblick auf die Anpassung an jeweilige Gegebenheiten. Gleiches gelte für REACH, die Dokumentation aller Chemikalien in einem Produkt. Hier seien die Prioritäten so zu setzen, dass die Richtlinie handhabbar werde. Da Wirtschaftsunternehmen und Länder deutlich gemacht hätten, sie wünschten keine neues Richtlinien- oder EU-Gesetzgebungsverfahren, habe man sich entschlossen, einen "Radwechsel zur Umgestaltung von REACH bei laufender Fahrt" vorzunehmen.