Das Parlament: Frau Kitowa, wie ist es heute um die Pressefreiheit in Ihrer Heimat bestellt?
Olga Kitowa: Welche Pressefreiheit? Pressefreiheit gibt es in Russland nicht. Die Massenmedien in der Region Belgorod zum Beispiel stehen völlig unter der Kontrolle des dortigen Gouverneurs. Weil die meisten Journalisten ihr Leben nicht aufs Spiel setzen wollen, schreiben sie, was von ihnen verlangt wird.
Das Parlament: Seit Ihrer Rückkehr berichten Sie wieder über den Gouverneur von Belgorod. Wie geht es Ihnen?
Olga Kitowa: Als ich 2005 zum ersten Mal wieder nach Belgorod gekommen bin, hat es keine halbe Stunde gedauert, bis das Telefon bei mir zu Hause klingelte. In wüsten Beschimpfungen wurde mir bedeutet, ich solle Belgorod so schnell wie möglich und für immer verlassen. Andernfalls werde man mich umbringen. Hinter dem Anruf steckte natürlich Jewgenij Sawtschenko, der Belgoroder Gouverneur. Deshalb lebe ich nun in Moskau und schreibe von dort aus für Moskauer Zeitungen über meine Heimatprovinz, das Belgoroder Gebiet.
Das Parlament: Ist es denn wirklich sicherer, in Moskau zu leben als in der Provinz? Immerhin wurde die Journalis-tin Anna Politkowskaja in Moskau ermordet.
Olga Kitowa: Das stimmt. Dennoch glaube ich, dass die Situation für Journalisten in Moskau insgesamt besser ist. Die Moskauer Zeitungen sind größer als die Provinzblätter und ein Stück weit unabhängig. Die regionalen Medien hingegen unterliegen völlig der Kontrolle durch die jeweilige Gebietsverwaltung. Wenn ein Journalist einer Regionalzeitung einen Artikel schreibt, der dem dortigen Gouverneur nicht passt, kann das nicht nur für den Journalisten selbst, sondern auch für seine Familie drastische Folgen haben. Vielleicht verliert seine Frau ihren Job, bekommt sein Sohn oder seine Tochter keinen Studienplatz. Die Artikel, für die ich vor fünf Jahren vor Gericht gestellt wurde, habe ich für eine Lokalzeitung geschrieben. Die meisten meiner Kollegen dort haben so getan, als ob sie der Prozess gegen mich gar nichts anginge.
Das Parlament: Das klingt, als fühlten Sie sich in Ihrem Kampf gegen Korruption in Belgorod allein gelassen.
Olga Kitowa: Ja, da haben Sie recht. Doch in der letzten Zeit hat sich die Situation etwas gebessert. Der Chefredakteur des "Moskowskij Komsomolez", für dessen Belgoroder Regionalausgabe ich heute schreibe, ist eine prominente Persönlichkeit. Er kann es sich erlauben, Artikel über die wahren Zustände in Belgorod zu veröffentlichen. Die Journalisten, mit denen ich dort zusammenarbeite, empfinde ich als Gleichgesinnte.
Das Parlament: Inwiefern hat der Mord an Anna Politkowskaja die Stimmung unter den Journalisten verändert?
Olga Kitowa: Das lässt sich schwer in Worte fassen. Man ist überwältigt, voller Wut. Annas Gegner hätten sich doch mit ihren Artikeln auseinandersetzen, versuchen können, ihre Behauptungen zu widerlegen. Doch das hat niemand getan. Man hat sie einfach umgebracht.
Das Parlament: Wer steckt hinter dem Mord?
Olga Kitowa: Der Mord war ein Geschenk, das Leute aus der Umgebung des tschetschenischen Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow diesem zu seinem 30. Geburtstag gemacht haben. Offiziell wird der Mord aber sicher niemals aufgeklärt werden.
Das Parlament: Fürchten Sie nun auch um Ihr eigenes Leben?
Olga Kitowa: Ich bin ja schon früher in sehr gefährlichen Situationen gewesen. Mir ist klar, dass ich die Erzfeindin des Belgoroder Gouverneurs bin. Nach dem Freispruch und meiner Rehabilitierung ist die Situation eher schlimmer geworden. Denn nun hat Sawtschenko eine neue Taktik gewählt: Er hat die Regionalausgabe des "Moskowskij Komsomolez" für jeden meiner Artikel auf Schadensersatz in Höhe von einer Million Rubel, etwa 30.000 Euro, verklagt, weil sie ihm angeblich großen seelischen Schmerz bereiten. Jetzt habe ich Angst, dass die Zeitung meine Artikel nicht mehr veröffentlicht, weil ihr das zu teuer wird.
Das Parlament: Was treibt Sie eigentlich an, diese unbequeme und gefährliche Arbeit weiterhin zu machen?
Olga Kitowa: Es ist doch mein Beruf. Ich wollte immer als Journalistin arbeiten und ich werde weiterhin als Journalistin arbeiten. Wenn in einem Land die Staatsanwaltschaft und die Miliz so korrupt sind, dass die Leute vor diesen Institutionen mehr Angst haben als vor der Kriminalität, dann kommen sie zu den Journalisten, um von ihnen beschützt zu werden.
Das Interview führte Nicole Alexander.