Das Parlament: Herr Brinkbäumer, Sie haben auf Ihrer zweimonatigen Reise durch Afrika hunderte Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa getroffen. Warum lassen all diese Menschen ihre Heimat und ihre Familien zurück auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft?
Brinkbäumer: Viele fliehen aus Ländern, in denen Bürgerkriege herrschen oder die so arm sind, dass es schwierig ist, überhaupt Nahrungsmittel zu finden. Es gibt auch Länder wie Nigeria, die so korrupt und zerstört sind, dass man dort kaum Arbeit finden kann, ohne bestechen zu müssen oder kriminell zu werden. Die Menschen in Lagos etwa leben inmitten von Dreck, Schlamm und einer hochkriminellen Gesellschaft. Sie gehen, weil sie ein besseres Leben suchen und das Leben ihrer Familie verbessern wollen.
Das Parlament: Sie nennen diese Verhältnisse in Ihrem Buch das "afrikanische System".
Brinkbäumer: Ja, die Familien wählen eine junge Frau oder einen jungen Mann aus, der sich auf die Reise machen wird. Oft ist es der älteste Sohn, der kräftigste eben. Die ganze Familie und der Clan, selbst die Nachbarn, legen Geld zusammen, um die Reise zu finanzieren. Wenn er oder sie durchkommt, erwarten die anderen natürlich, dass die Migranten Geld zurück schicken in die Heimat. Und das tun sie auch: Wenn die Flüchtlinge in Europa Arbeit finden, unterstützen sie zu Hause ihre Familien. Was da nach Afrika zurückfließt, ist dreimal so viel Geld wie die gesamte Entwicklungshilfe.
Das Parlament: Wer sind diese Menschen, die sich auf die Reise machen?
Brinkbäumer: Oft sind es die gut ausgebildeten, die mit abgeschlossenem Studium. In Nigeria zum Beispiel gibt es extrem gut geschulte Leute, nautische Ingenieure, die vergeblich hoffen, in einer der internationalen Ölbohrfirmen arbeiten zu können. In Ghana wird geklagt, dass Ärzte und Krankenschwes-tern, kaum dass sie die Ausbildung abgeschlossen haben, nach Großbritannien auswandern. Wenn man in Afrika von einer Mittelschicht sprechen kann, dann ist es eher die Mittelschicht, die sich auf den Weg macht. Unter 2.000 Dollar ist so eine Reise ja auch nicht zu machen, man muss die Schlepperbanden bezahlen können und die Überfahrten mit dem Boot.
Das Parlament: Welches Bild haben die Flüchtlinge von Europa, dass sie bereit sind, eine so gefährliche Flucht auf sich zu nehmen?
Brinkbäumer: Die Menschen der so genannten Dritten Welt wissen genau, wie viel Geld wir verdienen, wie alt wir werden, welche Autos wir fahren. Sie lesen es im Internet oder sehen es in Spielfilmen und, viel wichtiger, sie erfahren es durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Die jungen Männer, die zu Besuchen von Europa nach Hause kommen, erzählen ja schon aus Scham Heldengeschichten. Sie berichten, wie toll es angeblich in Europa ist, wie willkommen sie waren, wie leicht es war, Arbeit zu finden und wie wunderbar deutsche Frauen sind. Das bewirkt in den afrikanischen Dörfern sehr viel mehr als die Geschichte von einem Schlauchboot, dessen 80 Insassen gestorben sind. Dagegen anzugehen und zu sagen, hört mal zu, es ist anders, Europa ist anders, die Überfahrt über den Atlantik ist kaum zu schaffen, die Sahara ist mörderisch - das ist kaum möglich.
Das Parlament: Inzwischen scheint es ganze Wirtschaftszweige in Afrika zu geben, die nur von den Flüchtlingen leben. Kann man von einer regelrechten Schlepper-Industrie sprechen?
Brinkbäumer: Natürlich. Obwohl die Begriffe in Afrika anders verstanden werden. Die Schlepper verstehen sich selbst als Dienstleister. Sie sagen, wir zwingen ja niemanden, die geben uns Geld, wir geben ihnen das Auto und dann bringen wir sie von A nach B. Wie ein Reisebüro, durchorganisiert bis zum Letzten. Man kann die Luxusvariante wählen, sich ein Visum kaufen und wird dann ausgeflogen. Etwas billiger ist es, wenn man eine Schlepperbande bezahlt, die einen den ganzen Weg hoch nach Europa bringt, bis ans Ziel. Die meisten Migranten schlagen sich von einer Stadt zur anderen durch und sind daher oft viele Jahre unterwegs. Sie können überall an hochkriminelle Schlepper geraten, die die jungen Frauen vergewaltigen oder die Menschen, die sich ihnen anvertraut haben, einfach in der Wüste aussetzen und davon fahren. Das ist eine ziemlich brutale Welt.
Das Parlament: Ihr Buch ist nicht nur ein Buch über Flucht und Migration, es ist vor allem auch ein Buch über Afrika und die sehr spezielle afrikanische Misere. Wo sehen Sie die Ursachen für diese Not?
Brinkbäumer: Man darf die Geschichte von Sklaverei und von Kolonialzeit nicht vergessen, wenn man heute darüber redet, warum Afrika derart abgehängt ist. Als ein Großteil der afrikanischen Staaten 1960 aus der Kolonialisierung entlassen wurde, hatte in Europa das so genannte globale Zeitalter längst begonnen. Und noch heute werden durch die westliche Handelspolitik viele afrikanische Länder aktiv vom Weltmarkt ausgeschlossen. Nehmen Sie Burkina Faso. Dieses Land produziert nur ein einziges Produkt, nämlich Baumwolle. Nur ist diese Baumwolle auf dem Weltmarkt nicht verkäuflich, weil Europa und die Vereinigten Staaten die bei ihnen produzierte Baumwolle enorm subventionieren. Das ist im Kern das Problem, auch wenn man sagen muss, dass die Afrikaner selbst enorm viel Verantwortung für ihr eigenes Schicksal tragen.
Das Parlament: Inwiefern?
Brinkbäumer: Afrika ist im Prinzip ein reicher Kontinent und er könnte selbstverständlich ein funktionierender Kontinent sein, wenn es nicht die vielen Stammeskonflikte gäbe, die Clanstrukturen, die zahlreichen despotischen Führer und ihre hochkorrupten Gesellschaften. In Nigeria etwa gibt es Öl, Lebensmittel, Meereszugänge, Bodenschätze und viele gebildete Menschen, aber es wird nichts von dem vorhandenen Reichtum nach unten weitergereicht. In Benin City leben Menschen wie der Geschäftsmann Bob Izoua mit 80 Autos, inklusive Rolls Royce und Ferrari, einem Haus aus Marmor und Gold und acht Ehefrauen. Dieser Izoua guckt aus seinem Fenster und sieht dort Familien, die auf dem offenen Feuer Ratten grillen. Er kann seine Autos auf den Straßen Benin Citys nicht mal fahren, weil die nur Sandpisten voller Schlaglöcher sind. In einer solchen Gesellschaft bleiben die Gewinne aus dem Öl, die eigentlich in die Gemeinschaft fließen sollten, ausschließlich bei denen, die die Quellen kontrollieren.
Das Parlament: Die westliche Welt macht trotzdem gute Geschäfte mit Nigeria…
Brinkbäumer: Ja, und da geht es wieder um die europäische Verantwortung. So lange Europa und die USA zufrieden sind mit einem Land wie Nigeria, weil das Öl friedlich sprudelt, so lange sie keine Verantwortung für Demokratie oder Menschenrechte einfordern, wird sich die Gesellschaft dort nicht ändern. Mit dem Geld aus Europa oder den USA können die korrupten Regierungschefs nur ihre Systeme stabilisieren, also muss natürlich auch die Entwicklungshilfe dort ankommen, wo Entwicklung wirklich gebraucht wird - nämlich auf dem Land, auf den Dörfern, in der Mitte der Gesellschaft und nicht bei den Regierungen.
Das Parlament: Was sollte Europa im Hinblick auf Afrika konkret tun?
Brinkbäumer: Ich will mir nicht anmaßen, nun die Lösung für das afrikanische Problem gefunden zu haben, aber der europäische Blick sollte sich verändern. Eine Einwanderungspolitik, die auf Abwehr ausgerichtet ist und auf innere Sicherheit, ist brutal und gnadenlos. Es ist bekannt, dass tausende von Menschen im Mittelmeer und im Atlantik sterben, dass viele Flüchtlinge mitten in der Wüste vor sich hinvegetieren, weil sie von marokkanischen oder algerischen Militärs einfach ausgesetzt werden. Die europäische Migrationspolitik aber sieht so aus, dass sie die Zäune in Ceuta und Melilla immer höher zieht und die Patrouillenboote im Mittelmeer mitsamt ihren Nachtsicht- und Infrarotgeräten immer moderner werden. Das hat mit Migrationspolitik nichts zu tun, das ist eine Politik der Abwehr von Flüchtlingen.
Das Parlament: Aber was sind die Alternativen? Sollte Europa seine Grenzen öffnen?
Brinkbäumer: Nein, das wäre naiv und absurd. Das verlangt keiner, auch ich nicht. Ehrlichkeit und Mitgefühl wären schon viel. Wir sollten uns zum Beispiel einmal klar darüber werden, wie viel Zuwanderung wir in Deutschland und Europa wirklich brauchen, um unsere Gesellschaften jung und stabil zu halten. Dann würde man vielleicht zu einer Quotenregelung zu kommen oder zur Möglichkeit einer Mi- gration auf Zeit. Handelsgrenzen könnten fallen. Die Subventionen, die Afrika vom Welthandel fern halten, fördern Armut und damit genau die Migration, die man nun mühsam abzuwehren versucht. Das ist ein endloser Kreislauf, der viel mit Scheinheiligkeit zu tun hat und für tausende von Menschen tödlich ist.
Das Interview führte Johanna Metz.
Klaus Brinkbäumer: Der Traum vom Leben. Eine Afrikanische Odyssee. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006; 288 S., 18,90 Euro.