Schon der Weg durchs tiefe Kreuzberg zu Heike Wieses Berliner Büro entpuppt sich als Einführung ins Thema. Drei junge Leute türkischer oder deutscher Herkunft, genau ist das nicht zu erkennen, rauchen auf einer Parkbank Zigaretten und unterhalten sich gestikulierend. Beim Vorbeimarsch lässt sich ein Satz aufschnappen: "Morgen kommt Dreckskerl, weisstu." Sprachfetzen dieser Art hört auch die in Potsdam lehrende Germanistikprofessorin recht häufig, wenn sie in die von Schulklassen stark frequentierte Kreuzberger Buslinie M 29 steigt. Gerade in solchen Situationen kommt jener neue Jugendslang zum Einsatz, den die Wissenschaftlerin "Kiezsprache" nennt. Da mag eine Clique Heranwachsender vor dem nächsten Halt fröhlich ankündigen, "gleich machen rote Ampel", also bei Rot über die Straße zu laufen. Beim Streit von zwei Jungs heißt es: "Ey lan, isch hol mein Brudhern!", was so viel heißt wie "Kumpel, pass auf!"
Jugendslangs gibt es schon seit jeher: Heranwachsende grenzen ihre Szenen so vom Mainstream ab, die Sprache eignet sich obendrein wunderbar zur Provokation der etablierten Erwachsenenwelt. Das Neue an der in urbanen Quartieren mit vielen Migranten verbreiteten Kiezsprache indes ist das Kauderwelsch aus deutschen und türkischen, aber auch arabischen und kurdischen Wörtern, versetzt überdies mit Begriffen aus Rap- und Hiphopmusik. "Ein typisches Merkmal ist zudem die Verkürzung, meist entfallen Artikel und Präpositionen", erläutert die Germanistin. "Hastu Karre?""Nein, ich hab U-Bahn." Fährst du mit dem Auto? Nein, ich komme mit der U-Bahn.
In der Variante der "Kanak Sprak" hat dieser Slang einen Kultstatus erreicht. Über Ethno-Comedysendungen im Fernsehen lachen viele Zuschauer. "Hey Alder, was guckstu? Bin isch Kino oder was?" Das ist fast schon eine stehende Redewendung. In mehreren Büchern hat Michael Freidank das Kanakische mit Wortschatz-Erläuterungen und ironisierenden Geschichten populär gemacht. Da kann man lernen, wie man auf Kanakisch flirtet und anbaggert. Warum Mädels auf Jungs mit heißen Autos fliegen? Logisch: "Du bist dem krasseste Tuss, weil du Typ mit perverse Karre mit konkret viel PS hast." Der Autor hat für "Typn und Tussn" sogar Tipps für SMS-Botschaften auf Hardcore-Kanakisch publiziert, mit denen sich biedere Empfänger schocken lassen: "Weisstu, brausu nur konkrete SMS machen un deim Kumpels ham fettes Respekt!"
Das medial inszenierte Kanakisch bezeichnet Wiese als "übertriebene, stilisierte Version". Die Wissenschaftlerin hat vielmehr die Kiezsprache des Alltags im Auge, die sich im Übrigen auch in anderen Staaten wie etwa Schweden oder Holland herausgebildet hat. Hierzulande ist neben dem türkischen "lan" (Kumpel) beispielsweise das arabische "wallah" (um Gottes willen) gebräuchlich. Gern werden zwei Wörter zu einem Begriff verkürzt: "Ischwör" (ich schwöre) heißt, das kannst du mir wirklich glauben.
Andere Beispiele sind "musstu" oder "weisstu". Sehr beliebt ist der Dativ. "Schwul" steht generell für lau, schwächlich (womit auch PS-arme Autos charakterisiert werden). Wie bei jeder Umgangssprache mangelt es keineswegs an Zotigem, an Flüchen, Schimpfwörtern und derben Kraftausdrücken. "Dem Tuss fick ich" muss übrigens nicht zwangsläufig auf das hinauslaufen, woran man sofort denkt: Das kann so gemeint sein, je nach Kontext bedeutet "ficken" jedoch auch "fertigmachen". Unkundige Zeitgenossen dürften mit Mord und Totschlag rechnen, wenn ein Typ einem anderen mit dem Satz "Ich mach dich Messer" droht: Aber auch auf Normaldeutsch wird oft wütend und folgenlos ausgerufen, "den könnte ich umbringen".
Auf den ersten Blick mutet die Kiezsprache mit ihrer sparsamen Handhabung von Vokabeln und Grammatik wie unvollständiges, miserables Deutsch an. Heike Wiese sieht das freilich anders: "Da entsteht etwas Neues, etwas Innovatives, etwas Spannendes." In der Tat mischen sich in Städten ausländische und deutsche Jugendliche in multiethnischen Szenen und schaffen sich auf urwüchsige, authentische Weise ihre eigene Verständigung: Eine gesellschaftliche Entwicklung schlägt sich auf der sprachlichen Ebene nieder.
Der Jugendslang pflegt so manchen erschreckten Spießern, Pädagogen und Leitkultur-Strategen kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Propagiert werden repressive Maßnahmen wie Deutschzwang auf Schulhöfen. Wie der an der Freien Universität (FU) Berlin tätige Soziolinguist Norbert Dittmar, mit dem Wiese eine Vorlesungsreihe über die Kiezsprache organisiert, wirbt die Germanistin für eine ganz andere, eine kreative Idee: Im Schulunterricht sollen Jugendliche über ihren Slang an ein richtiges Deutsch herangeführt werden.
Die Lehrer sollen sich nun nicht anbiedern und kiezsprachlich verrenken: Mahnungen wie "Deutsch is krass geil" würden auch wohl kaum fruchten. Nach Wieses und Dittmars Konzept sammeln die Jugendlichen typische Redewendungen, die vom Lehrer mit deutschen Entsprechungen konfrontiert werden - und das Ganze wird dann grammatikalisch analysiert. Wie kommt man etwa von "Gehe morgen Arbeitsamt" zu "Morgen gehe ich zum Arbeitsamt?" Wo steht das Verb im Standarddeutsch? So könne man die Heranwachsenden für Grammatik interessieren, ist die Wissenschaftlerin überzeugt. Bei Wiese hat sich bereits eine schwäbische Berufsschullehrerin gemeldet, die diese neue Methode im Unterricht ausprobieren will.
"Die Pädagogen müssen dem Jugendslang gegenüber aufgeschlossen sein", betont die Germanistin. Der dürfe nicht negativ verteufelt werden. Genau diesen Vorwurf, kein Deutsch zu können, hörten jedoch viele junge Leute häufig, kritisiert Wiese. Bei ihren Befragungen hätten die Jugendlichen hingegen gemerkt, dass sich jemand für ihre Sprache und damit für sie interessiert: "Und plötzlich hatten wir begeisterte Gesprächspartner."