Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) schlägt Alarm: Obwohl der Krankenstand in den Betrieben in den vergangenen 15 Jahren stetig gesunken ist, wächst die Zahl der psychischen Erkrankungen. Seit 1991, so die BKK-Statistik, haben die Fehltage aufgrund von Depressionen, Angstzuständen oder Stress um fast ein Drittel zugenommen. Immer mehr Arbeitnehmer sind am "Feierabend" nicht in Feierstimmung. Zermürbt von den Anforderungen eines anstrengenden Berufsllalltags, wollen sie abends nur noch ihre Ruhe haben. Passiv verbringen sie ihre Freizeit vor dem Bildschirm, werden früh müde, können aber auch nicht gut schlafen. Auf lange Sicht drohen Erschöpfung und Apathie, manchmal gar ein andauerndes Nervenleiden.
Seit 1996 sind psychische Belastungen als gesundheitsgefährdende Berufskrankheiten im Arbeitsschutzgesetz offiziell anerkannt. "Die Depression ist der Arbeitsunfall der Postmoderne", formuliert plakativ Hans-Peter Unger von der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Harburg. Der Mediziner weist darauf hin, dass die Zahl der handfesten Verletzungen auch in den Industriebetrieben deutlich zurückgegangen ist. Statt dessen wachse das Risiko einer psychischen Störung.
"Während die körperlichen Belastungen in den vergangenen zehn Jahren auf gleichem Niveau stagnieren, haben andere Belastungen deutlich zugenommen", bestätigt der Arbeitswissenschaftler Alfred Oppolzer den Trend. Der "Terror der Seele" fordert seinen Tribut: Vier Millionen Deutsche gelten nach Studien als depressiv - eine eher vorsichtige Schätzung, die leichte oder nicht als solche erkannte Krankheitsverläufe unberücksichtigt lässt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählt Depression zu den häufigsten und am meisten unterschätzten Erkrankungen.
Jeder fünfte deutsche Rentner geht heute aus gesundheitlichen Gründen in den Vorruhestand. Rund ein Drittel dieser Fälle beruht auf psychischen Störungen, vor zwanzig Jahren war es nur ein Zehntel. Bei den Männern steht nach wie vor Alkoholsucht an ers-ter Stelle der Erkrankungen, bei den Frauen lautet die Begründung am häufigsten: Depression.
Die Ärzte fassen unter diesem Begriff Krankheitsbilder zusammen, die sich in einer gedrückten Stimmung äußern. Sie führen depressive Störungen auf einen Auslöser, auf kränkende und emotional belastende Ereignisse zurück. Ständige Überforderung, fehlende Anerkennung durch Kollegen, Druck von Vorgesetzten und gezieltes Mürbemachen durch Mobbing gelten im beruflichen Umfeld als mögliche Ursachen. Kommen mehrere dieser Faktoren zusammen, kann ein nicht mehr lösbar erscheinender psychischer Konflikt entstehen. Die als feindselig empfundene Stimmung am Arbeitsplatz, kombiniert mit der Angst vor einer möglichen Entlassung, kann zum Rückzug in Form einer Depression führen. Die Betroffenen fühlen sich mutlos, sind ohne Antrieb, verlieren das Interesse an ihrer Umgebung. Ihre Leistungsfähigkeit sinkt; komplizierte Herausforderungen werden aufgeschoben und sind irgendwann nicht mehr zu bewältigen.
"Wenn der Boden, auf dem man steht, immer dünner wird, bricht man irgendwann ein": In dieses Bild kleiden es die Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther und Jürgen Pilz. Anders als frühere Generationen können sich die Arbeitnehmer heute nicht mehr auf eine klar gegliederte Berufsbiografie, auf kontinuierliche Jobs und berechenbare Lebensumstände verlassen. Das Risiko, aber auch die Angst, gekündigt zu werden, ist gestiegen. Die unablässige Anpassung an veränderte Betriebsabläufe, der Abschied von lieb gewonnenen Gewohnheiten und der Zwang zur ständigen Neuorientierung überfordern viele Menschen.
Nach einer Umfrage der Europäischen Union fühlen sich zwei Drittel der Beschäftigten gestresst. Der Grund sind nicht nur die in vielen Unternehmen ganz selbstverständlich erwarteten Überstunden, sondern auch die Orientierung an hochwertigen Ergebnissen in möglichst kurzer Zeit. Im "European Survey" klagte vor gut zehn Jahren fast die Hälfte der Befragten über ein zu hohes Arbeitstempo. Inzwischen liegt die Zahl derjenigen, die unter Termin- und Leistungsdruck leiden, bei 60 Prozent. Stress macht nicht nur die Betroffenen krank, er hat auch betriebswirtschaftliche Folgen. Experten beziffern die Kosten von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen der Mitarbeiter auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr. Bernhard Badura von der Universität Bielefeld rät daher zu einer am Prinzip der Vorsorge orientierten Gesundheitspolitik: Im eigenen Interesse dürften die Betriebe ihre Belegschaften nicht ständig überfordern.
Was kann der einzelne tun, um gegen Depression und andere psychische Störungen gefeit zu sein? Die Buchautorin Bärbel Kerber nennt bei beruflicher Überlastung "Fünf Schritte aus der Erschöpfungsfalle": "Am Anfang muss man sich erst mal eingestehen, dass es ein Problem gibt." Nach dieser Selbsterkenntnis empfiehlt Kerber, die eigene Arbeitszeit zu managen, klare Prioritäten zu setzen und genügend Puffer einzuplanen. Wichtig sei es, die Kontrolle zurückzugewinnen und auch mal "nein" sagen zu können. Als letztes gibt die Stress-Expertin einen banal klingenden Tipp: Pause machen. Solche Vorschläge mögen im Einzelfall helfen. Sie gaukeln aber auch vor, mit individuellen Verhaltensänderungen ließen sich Probleme lösen, die überwiegend strukturell bedingt sind. Was nützt das Neinsagen, wenn als Folge der Rausschmiss droht? Der Krankenstand sinkt, weil die Jobs unsicher werden - gesünder sind die Menschen deshalb nicht. Eher gilt das Gegenteil: Leistungsdruck und psychische Belastungen machen sich in Krisenzeiten besonders bemerkbar. Sozialforscher Badura fordert deshalb die Kooperation der betrieblichen Akteure mit Ärzten, Krankenkassen und Gewerkschaften: Gemeinsam sollten sie ein präventiv ausgerichtetes "Gesundheitsmanagement" entwickeln.