Pressemitteilung
Datum: 21.10.2002
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
21.10.2002
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Deutschlandpremiere des Films "Der Pianist" von Roman Polanski am 21. Oktober im Berliner Ensemble
"Roman Polanski hat viele bedeutende Filme gedreht, aber noch
nie einen Film wie "Der Pianist". Das Thema dieses Films hat er
über viele Jahre mit sich herumgetragen. Es ist eng mit seiner
Biographie verflochten: mit der Erfahrung der grausamen
nationalsozialistischen Judenverfolgungen im besetzten Polen. Roman
Polanski stand als kleiner Junge in Warschau an der Strasse und
sah, wie die deutschen Besatzer einmarschierten. Er erlebte, wie
die Ausgrenzung der Juden, die Jagd auf Juden begann. Seine Eltern
wurden ins KZ verschleppt, seine Mutter in Auschwitz ermordet. Sein
Vater konnte das KZ Mauthausen überleben. Roman Polanski
selbst flüchtete aus dem Krakauer Ghetto, irrte jahrelang
durch Polen, immer auf der Suche nach einem Versteck und nach
Menschen, die ihm halfen.
Roman Polanski hat solche Menschen gefunden. Er überlebte den Holocaust und begann ein neues Leben. Er studierte in Warschau und Lodz, wurde Regisseur bedeutender Filme - zuerst in Polen und dann im Westen. Roman Polanski hat Filmgeschichte geschrieben, aber er wollte nie seine eigene Überlebensgeschichte verfilmen. In einem Interview hat Roman Polanski kürzlich gesagt: "Ich wollte immer einen Film aus diesen Tagen machen, und ich wollte einen Film in Polen machen. Aber ich wollte nie meine eigene Biographie verfilmen. Es ist zu nah, das ist nicht meine Art zu arbeiten." Auch das Angebot, in "Schindlers Liste" Regie zu führen, lehnte er ab - weil der Film zu eng mit seinen Kindheitserfahrungen, mit seiner Heimatstadt Krakau verbunden war, mit den Menschen, die ihm nahe standen und die er verloren hat.
Für Roman Polanski - und uns alle - war es deshalb ein Glücksfall, dass er vor Jahren auf die Autobiographie von Wladyslaw Szpilman stieß, auf den Tatsachenbericht "Das wunderbare Überleben". Die Auseinandersetzung mit Szpilmans Geschichte eröffnete ihm die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen des Lebens im Grauen fest zu halten. Wer dieses Grauen überlebt, wird es nicht wieder los. Ich wage die Behauptung: trotz dieser Distanz ist "Der Pianist" Roman Polanskis persönlichster Film geworden.
Aber ich spreche hier nicht als Filmkritiker. Der Film ist keineswegs cineastisch, sondern vor allem politisch bedeutsam. "Der Pianist" erzählt eine Geschichte, die nicht vergessen werden kann - von niemandem, der diesen Film gesehen hat. "Der Pianist" geht unter die Haut: er führt uns vor Augen, was Menschen Menschen antun, wenn elementare Grundsätze von Menschenwürde und Menschenrechten außer Kraft gesetzt werden - damals wie heute. Dieser Film lässt anschaulich werden, warum in unserer Gesellschaft schon die Ansätze zu Menschenverachtung, Rassismus, Antisemitismus keine Chance haben dürfen. Das können Kunst, Literatur, der Film viel aufrüttelnder, viel wirkungsvoller als der erhobene Zeigefinger zeitgeschichtlicher Seminare und moralisierender Leitartikel. Der Film über Wladyslaw Szpilman erklärt die Gründe für die Verteidigung humanitärer Grundwerte nicht nur, er macht erfahrbar, fühlbar, dass wir die Grundrechte sichern und an künftige Generationen weitergeben müssen. Sie sind für jede Gesellschaft lebenswichtig, die zivilisiert und demokratisch sein will.
Der Film "Der Pianist" läuft hier zu dem Zeitpunkt an, an dem wir in Europa auf dem Weg zu guter Nachbarschaft das entscheidende letzte Stück angehen. Ich meine die Erweiterung der Europäischen Union. Ich halte die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Polen bei der Erweiterung für genauso wichtig, wie es die zwischen Deutschland und Frankreich für die Gründung und den bisherigen Erfolg der EU war. Aber diese Freundschaft wird nur Bestand haben, wenn wir uns Rechenschaft ablegen über die Vergangenheit, die in Polanskis Film so eindrucksvoll vor unser Auge tritt und über die Konsequenzen, die wir daraus für die Zukunft ziehen. Gerade wegen dieser Vergangenheit wollen wir ein gemeinsames Europa der Menschenrechte und Menschenwürde, des Friedens, der Freiheit und sozialer Gerechtigkeit schaffen. Ein solches Europa wäre ohne geschichtliche Selbstvergewisserung nicht tragfähig. Roman Polanskis "Der Pianist" - übrigens eine französisch-deutsch-polnisch-britische Co-Produktion - trägt ein wichtiges Stück zu dieser Selbstvergewisserung bei.
Sehr geehrter Herr Polanski, in einer Rezension Ihres Filmes ist zu lesen, "Der Pianist" sei deshalb so eindringlich, weil er "ein einfacher Film" sei. Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Sie alle, meine Damen und Herren, werden sich gleich Ihre Meinung bilden können. Aber es gibt in diesem Film eine Szene, die zeigt, dass es die einfachen Handlungen von Menschen sind, in denen Hilfe, Mitgefühl, Fürsorglichkeit, Mitmenschlichkeit deutlich werden. An einem kleinen Gebrauchsgegenstand unseres alltäglichen Lebens wird bewusst: die Abkehr von Hass und der Widerstand gegen Rassismus und Entmenschlichung beginnt mit einfachen, alltäglichen Handlungen - im Warschau des Zweiten Weltkriegs und, wie ich hoffe, ebenso im Berlin von heute und an jedem anderen Ort."
Roman Polanski hat solche Menschen gefunden. Er überlebte den Holocaust und begann ein neues Leben. Er studierte in Warschau und Lodz, wurde Regisseur bedeutender Filme - zuerst in Polen und dann im Westen. Roman Polanski hat Filmgeschichte geschrieben, aber er wollte nie seine eigene Überlebensgeschichte verfilmen. In einem Interview hat Roman Polanski kürzlich gesagt: "Ich wollte immer einen Film aus diesen Tagen machen, und ich wollte einen Film in Polen machen. Aber ich wollte nie meine eigene Biographie verfilmen. Es ist zu nah, das ist nicht meine Art zu arbeiten." Auch das Angebot, in "Schindlers Liste" Regie zu führen, lehnte er ab - weil der Film zu eng mit seinen Kindheitserfahrungen, mit seiner Heimatstadt Krakau verbunden war, mit den Menschen, die ihm nahe standen und die er verloren hat.
Für Roman Polanski - und uns alle - war es deshalb ein Glücksfall, dass er vor Jahren auf die Autobiographie von Wladyslaw Szpilman stieß, auf den Tatsachenbericht "Das wunderbare Überleben". Die Auseinandersetzung mit Szpilmans Geschichte eröffnete ihm die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen des Lebens im Grauen fest zu halten. Wer dieses Grauen überlebt, wird es nicht wieder los. Ich wage die Behauptung: trotz dieser Distanz ist "Der Pianist" Roman Polanskis persönlichster Film geworden.
Aber ich spreche hier nicht als Filmkritiker. Der Film ist keineswegs cineastisch, sondern vor allem politisch bedeutsam. "Der Pianist" erzählt eine Geschichte, die nicht vergessen werden kann - von niemandem, der diesen Film gesehen hat. "Der Pianist" geht unter die Haut: er führt uns vor Augen, was Menschen Menschen antun, wenn elementare Grundsätze von Menschenwürde und Menschenrechten außer Kraft gesetzt werden - damals wie heute. Dieser Film lässt anschaulich werden, warum in unserer Gesellschaft schon die Ansätze zu Menschenverachtung, Rassismus, Antisemitismus keine Chance haben dürfen. Das können Kunst, Literatur, der Film viel aufrüttelnder, viel wirkungsvoller als der erhobene Zeigefinger zeitgeschichtlicher Seminare und moralisierender Leitartikel. Der Film über Wladyslaw Szpilman erklärt die Gründe für die Verteidigung humanitärer Grundwerte nicht nur, er macht erfahrbar, fühlbar, dass wir die Grundrechte sichern und an künftige Generationen weitergeben müssen. Sie sind für jede Gesellschaft lebenswichtig, die zivilisiert und demokratisch sein will.
Der Film "Der Pianist" läuft hier zu dem Zeitpunkt an, an dem wir in Europa auf dem Weg zu guter Nachbarschaft das entscheidende letzte Stück angehen. Ich meine die Erweiterung der Europäischen Union. Ich halte die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Polen bei der Erweiterung für genauso wichtig, wie es die zwischen Deutschland und Frankreich für die Gründung und den bisherigen Erfolg der EU war. Aber diese Freundschaft wird nur Bestand haben, wenn wir uns Rechenschaft ablegen über die Vergangenheit, die in Polanskis Film so eindrucksvoll vor unser Auge tritt und über die Konsequenzen, die wir daraus für die Zukunft ziehen. Gerade wegen dieser Vergangenheit wollen wir ein gemeinsames Europa der Menschenrechte und Menschenwürde, des Friedens, der Freiheit und sozialer Gerechtigkeit schaffen. Ein solches Europa wäre ohne geschichtliche Selbstvergewisserung nicht tragfähig. Roman Polanskis "Der Pianist" - übrigens eine französisch-deutsch-polnisch-britische Co-Produktion - trägt ein wichtiges Stück zu dieser Selbstvergewisserung bei.
Sehr geehrter Herr Polanski, in einer Rezension Ihres Filmes ist zu lesen, "Der Pianist" sei deshalb so eindringlich, weil er "ein einfacher Film" sei. Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Sie alle, meine Damen und Herren, werden sich gleich Ihre Meinung bilden können. Aber es gibt in diesem Film eine Szene, die zeigt, dass es die einfachen Handlungen von Menschen sind, in denen Hilfe, Mitgefühl, Fürsorglichkeit, Mitmenschlichkeit deutlich werden. An einem kleinen Gebrauchsgegenstand unseres alltäglichen Lebens wird bewusst: die Abkehr von Hass und der Widerstand gegen Rassismus und Entmenschlichung beginnt mit einfachen, alltäglichen Handlungen - im Warschau des Zweiten Weltkriegs und, wie ich hoffe, ebenso im Berlin von heute und an jedem anderen Ort."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2002/021021