Pressemitteilung
Datum: 20.10.2004
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
20.10.2004
Rede von Bundestagspräsident Thierse in der Feierstunde des Bundestags zur Erinnerung an den ehemaligen Bundestagspräsidenten Dr. Hermann Ehlers
(Stenographisches Protokoll)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Mitglieder der Familie Ehlers! Meine Damen und Herren! In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist Hermann Ehlers der zweite Bundestagspräsident. Er war 46 Jahre alt, als er sein Amt antrat. Damit war er deutlich jünger als andere prägende politische Persönlichkeiten seiner Zeit: Theodor Heuss war bereits 66 Jahre alt, Konrad Adenauer sogar 74. Hermann Ehlers war bei seiner Wahl – jedenfalls außerhalb kirchlicher Kreise – so gut wie unbekannt. Das erklärt vielleicht auch, warum er zunächst mit nur 62 Prozent der Stimmen in sein Amt gewählt wurde.
Das ist fast auf den Tag genau vor 54 Jahren, am 19. Oktober 1950, gewesen. Damals verweigerten diesem unbeschriebenen politischen Blatt sogar etliche Christ- und Freidemokraten ihre Stimme. Allerdings wussten die Abgeordneten da noch nicht, was für ein politisches Talent Hermann Ehlers war. Es ahnte wohl auch keiner, zu welch zentraler Gestalt deutscher Nachkriegspolitik Hermann Ehlers in den nur vier Jahren aufsteigen sollte, die ihm noch verblieben. Denn Hermann Ehlers, am 1. Oktober 1904 geboren, ist - gerade 50 Jahre alt - schon am 29. Oktober 1954 gestorben.
Hermann Ehlers war für den Deutschen Bundestag, für den deutschen Parlamentarismus ein Glücksfall. Er war der richtige Mann am richtigen Platz zur richtigen Zeit. Hermann Ehlers war ein Präsident, der dem Bundestag dank seiner natürlichen Autorität, seines Charismas und eines unermüdlichen Einsatzes zu mehr Selbstbewusstsein und Ansehen verhalf, in einer Zeit, als das junge Parlament noch auf der Suche nach seiner Rolle, nach seinem Selbstverständnis war. Zwar hatte der Bundestag als Gesetzgeber von Anfang an Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen, doch hatte das Parlament in den allerersten Jahren seinen Platz in der jungen Demokratie noch nicht recht gefunden. Das lag einerseits daran, dass es sich in einer Zeit voller Provisorien auch selbst als provisorisch verstand, andererseits daran, dass es nicht an eine ungebrochene parlamentarische Tradition anknüpfen konnte. Zudem standen viele Bürgerinnen und Bürger - mit der Demokratie nicht mehr oder noch nicht sehr vertraut - dem Parlamentarismus und dem Parlament durchaus distanziert gegenüber.
Das war die Situation, in der Hermann Ehlers als Nachfolger des zurückgetretenen Erich Köhler Präsident des Bundestages wurde. Er setzte sich vom ersten Tag an auf geradezu kämpferische Weise für das Parlament ein. Er startete einen regelrechten Aufklärungs- und Werbefeldzug für den Bundestag. Er soll im ganzen Land Hunderte von Vorträgen gehalten haben, er suchte überall das Gespräch, er schrieb unzählige Aufsätze und Briefe. Immer ging es dabei um das eine: über die Arbeit des Bundestages zu informieren und die parlamentarischen Prozesse durchschaubar, verständlich zu machen, damit aus Verstehen Vertrauen wachsen konnte: Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und ihre wichtigste Institution, den Bundestag.
Im Grunde ging es ihm darum, die noch demokratieunerfahrenen Menschen für den demokratischen Staat zu gewinnen. Er ging dabei ganz neue Wege. So öffnete Hermann Ehlers die Türen des Bundeshauses. Er war überzeugt, dass das Parlament ein offenes Haus sein muss, ein Haus für die Bürger. Das ist bis heute ein Leitgedanke unseres Parlaments. Ich bin sicher, dass er sich darüber freuen würde, dass der Bundestag in Berlin inzwischen das meistbesuchte Parlament der Welt ist.
Hermann Ehlers war es auch, der die damals ganz neuen Möglichkeiten des Fernsehens erkannte. Er genehmigte, was wahrlich nicht selbstverständlich war, die Fernsehübertragung von Plenardebatten, weil er wusste, dass Demokratie eine größtmögliche Transparenz der Entscheidungsprozesse braucht. Und noch etwas haben wir Hermann Ehlers zu verdanken: Er initiierte und förderte die internationalen parlamentarischen Beziehungen. Er lud Parlamentarier anderer Länder nach Bonn ein. Bereits im Herbst 1951 konnte er eine Delegation des britischen Unterhauses und kurz darauf eine des amerikanischen Kongresses begrüßen.
Hermann Ehlers arbeitete - nach außen wie nach innen - für eine starke Legislative, für ein Parlament, das sich seiner Sonderstellung aufgrund der unmittelbaren Legitimität bewusst ist. Er traf dabei zuweilen durchaus provozierende Entscheidungen – auch gegen die erklärte Position der Bundesregierung oder der Alliierten. So entschied er zum Beispiel, die Bundesversammlung 1954 nach Berlin einzuberufen. Damit setzte er ein klares Zeichen für Berlin und für die deutsche Einheit. Aber selbstverständlich war Hermann Ehlers auch daran gelegen, mit dieser Entscheidung das Selbstbewusstsein und die Unabhängigkeit des Parlaments zu demonstrieren. Hermann Ehlers setzte sich durch. Seine Entscheidung wurde eine Präzedenzentscheidung. Auch die beiden nächsten Bundesversammlungen 1959 und 1964 fanden - dann beinahe schon selbstverständlich - in Berlin statt.
Meine Damen und Herren, Hermann Ehlers muss eine eindrucksvolle Persönlichkeit von großer Ausstrahlung gewesen sein. Wer ihn persönlich erlebt hat, rühmte seine Fähigkeit, mit Menschen umzugehen. Wohl auch deshalb gelang es Hermann Ehlers, in der parlamentarischen Arbeit einen Stil des respektvollen Umgangs miteinander zu prägen - ein entscheidender Fortschritt angesichts der Tatsache, dass noch im ersten Bundestag Handgreiflichkeiten und Tumulte durchaus an der Tagesordnung waren. Seit Hermann Ehlers gehören Fairness und Toleranz zu den ungeschriebenen Regeln unserer parlamentarischen Etikette, was allerdings nicht heißen soll, dass man nicht auch heute von Zeit zu Zeit an sie erinnern müsste.
Hermann Ehlers' Geschick, Plenarsitzungen zu leiten, ist legendär. Er verblüffte, wie Zeitzeugen berichten, durch ausgezeichnete Kenntnis der Geschäftsordnung und führte die Sitzungen auf souveräne Weise. Eine Anekdote mag das belegen: Konrad Adenauer stand am Rednerpult des Plenums und hielt eine Rede zur Außenpolitik, bei der er immer wieder durch Zwischenrufe unterbrochen wurde. Als es Adenauer zu viel wurde, drehte er sich verärgert um und forderte von Ehlers: Herr Präsident, ich bitte, dafür zu sorgen, dass eine Erklärung des Regierungschefs in Ruhe angehört wird. Daraufhin Ehlers trocken: Herr Bundeskanzler, ich halte die Ordnung nach den Regeln der Geschäftsordnung aufrecht. Zwischenrufe sind durchaus parlamentarisch!
Diese Anekdote ist ein Beispiel dafür, wie souverän und parteipolitisch neutral Hermann Ehlers sein Amt ausübte. Dabei – und das ist kein Widerspruch – war Hermann Ehlers ein durchaus politischer Präsident mit klaren Wertüberzeugungen und ebenso klaren Standpunkten. Dass er zugleich stellvertretender Vorsitzender der CDU war, hat er nie versteckt. Im Gegenteil, als CDU-Politiker bezog er deutlich Stellung und griff auch immer wieder in die Debatten ein. Gelegentlicher Kritik daran pflegte er mit dem Hinweis zu begegnen, dass er schließlich auch Abgeordneter sei und in seinem Wahlkreis gegen Politiker anderer Parteien antreten müsse. Gerade an Hermann Ehlers' Amtsverständnis und Amtsausübung wird deutlich, dass sich unparteiische Amtsführung und politisches Credo nicht ausschließen, sondern - im Gegenteil - dass beides gewissermaßen mit zum unauflösbaren Spannungsfeld dieses Amtes gehört.
Hermann Ehlers hat sich mit Verve für das Parlament eingesetzt. Als überzeugter Parlamentarier ist er gleichwohl nicht geboren worden. Er war ein überzeugter Konservativer, der in einem parlaments- und parteienskeptischen - um nicht zu sagen: parteienfeindlichen - Umfeld aufgewachsen war. Von Demokratie und Weimarer Republik hielt der junge Hermann Ehlers nicht viel. Allerdings stand er als überzeugter Christ auch dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Er hielt Christentum und Nationalsozialismus für unvereinbar und übte als Schriftleiter der evangelischen "Jugendwacht" deutliche Kritik. Das brachte ihn in Konflikt mit den braunen Machthabern. Die Gestapo verhaftete ihn kurzzeitig; später wurde er auch aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen.
Es waren die historischen Erfahrungen von NS-Diktatur und Krieg, die seine Einstellung zur Demokratie grundlegend änderten. Sie haben ihn zum Verfechter der Demokratie und des Parlaments werden lassen. Hermann Ehlers war ein entschiedener Demokrat. Sein Einsatz für die Demokratie aber kam gewiss mehr aus dem Verstand denn aus dem Gefühl. Er war ein "Vernunftrepublikaner", der sich auf rationale, nüchterne, pädagogische Weise für die Demokratie und für das Parlament stark machte und vielleicht gerade deshalb so viele überzeugte.
Der frühe und unerwartete Tod Hermann Ehlers' löste große Bestürzung aus. Die Abgeordneten aller Fraktionen wussten sehr genau, was sie mit ihm verloren hatten. Carlo Schmid, selbst ein parlamentarisches Urgestein, nannte Hermann Ehlers in einem Nachruf den "getreuen Eckart" des Parlaments.
Wie groß das Ansehen Hermann Ehlers' bei den Fraktionen des Hauses war, war schon bei seiner Wiederwahl ein Jahr vor seinem Tod erkennbar gewesen: Als er sich am 6. Oktober 1953 zum zweiten Mal den Abgeordneten zur Wahl stellte, wurde er mit mehr als 93 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Niemals wieder hat ein Bundestagspräsident vom Parlament höhere Zustimmung erhalten.
Hermann Ehlers hat dem Bundestag große Dienste erwiesen. Vieles von dem, was er damals auf den Weg gebracht hat, wirkt bis in die Gegenwart fort und wird auch in die Zukunft reichen.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern uns heute dankbar an Hermann Ehlers, einen bedeutenden Demokraten und Parlamentarier, einen herausragenden Staatsmann.
(Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Mitglieder der Familie Ehlers! Meine Damen und Herren! In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist Hermann Ehlers der zweite Bundestagspräsident. Er war 46 Jahre alt, als er sein Amt antrat. Damit war er deutlich jünger als andere prägende politische Persönlichkeiten seiner Zeit: Theodor Heuss war bereits 66 Jahre alt, Konrad Adenauer sogar 74. Hermann Ehlers war bei seiner Wahl – jedenfalls außerhalb kirchlicher Kreise – so gut wie unbekannt. Das erklärt vielleicht auch, warum er zunächst mit nur 62 Prozent der Stimmen in sein Amt gewählt wurde.
Das ist fast auf den Tag genau vor 54 Jahren, am 19. Oktober 1950, gewesen. Damals verweigerten diesem unbeschriebenen politischen Blatt sogar etliche Christ- und Freidemokraten ihre Stimme. Allerdings wussten die Abgeordneten da noch nicht, was für ein politisches Talent Hermann Ehlers war. Es ahnte wohl auch keiner, zu welch zentraler Gestalt deutscher Nachkriegspolitik Hermann Ehlers in den nur vier Jahren aufsteigen sollte, die ihm noch verblieben. Denn Hermann Ehlers, am 1. Oktober 1904 geboren, ist - gerade 50 Jahre alt - schon am 29. Oktober 1954 gestorben.
Hermann Ehlers war für den Deutschen Bundestag, für den deutschen Parlamentarismus ein Glücksfall. Er war der richtige Mann am richtigen Platz zur richtigen Zeit. Hermann Ehlers war ein Präsident, der dem Bundestag dank seiner natürlichen Autorität, seines Charismas und eines unermüdlichen Einsatzes zu mehr Selbstbewusstsein und Ansehen verhalf, in einer Zeit, als das junge Parlament noch auf der Suche nach seiner Rolle, nach seinem Selbstverständnis war. Zwar hatte der Bundestag als Gesetzgeber von Anfang an Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen, doch hatte das Parlament in den allerersten Jahren seinen Platz in der jungen Demokratie noch nicht recht gefunden. Das lag einerseits daran, dass es sich in einer Zeit voller Provisorien auch selbst als provisorisch verstand, andererseits daran, dass es nicht an eine ungebrochene parlamentarische Tradition anknüpfen konnte. Zudem standen viele Bürgerinnen und Bürger - mit der Demokratie nicht mehr oder noch nicht sehr vertraut - dem Parlamentarismus und dem Parlament durchaus distanziert gegenüber.
Das war die Situation, in der Hermann Ehlers als Nachfolger des zurückgetretenen Erich Köhler Präsident des Bundestages wurde. Er setzte sich vom ersten Tag an auf geradezu kämpferische Weise für das Parlament ein. Er startete einen regelrechten Aufklärungs- und Werbefeldzug für den Bundestag. Er soll im ganzen Land Hunderte von Vorträgen gehalten haben, er suchte überall das Gespräch, er schrieb unzählige Aufsätze und Briefe. Immer ging es dabei um das eine: über die Arbeit des Bundestages zu informieren und die parlamentarischen Prozesse durchschaubar, verständlich zu machen, damit aus Verstehen Vertrauen wachsen konnte: Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und ihre wichtigste Institution, den Bundestag.
Im Grunde ging es ihm darum, die noch demokratieunerfahrenen Menschen für den demokratischen Staat zu gewinnen. Er ging dabei ganz neue Wege. So öffnete Hermann Ehlers die Türen des Bundeshauses. Er war überzeugt, dass das Parlament ein offenes Haus sein muss, ein Haus für die Bürger. Das ist bis heute ein Leitgedanke unseres Parlaments. Ich bin sicher, dass er sich darüber freuen würde, dass der Bundestag in Berlin inzwischen das meistbesuchte Parlament der Welt ist.
Hermann Ehlers war es auch, der die damals ganz neuen Möglichkeiten des Fernsehens erkannte. Er genehmigte, was wahrlich nicht selbstverständlich war, die Fernsehübertragung von Plenardebatten, weil er wusste, dass Demokratie eine größtmögliche Transparenz der Entscheidungsprozesse braucht. Und noch etwas haben wir Hermann Ehlers zu verdanken: Er initiierte und förderte die internationalen parlamentarischen Beziehungen. Er lud Parlamentarier anderer Länder nach Bonn ein. Bereits im Herbst 1951 konnte er eine Delegation des britischen Unterhauses und kurz darauf eine des amerikanischen Kongresses begrüßen.
Hermann Ehlers arbeitete - nach außen wie nach innen - für eine starke Legislative, für ein Parlament, das sich seiner Sonderstellung aufgrund der unmittelbaren Legitimität bewusst ist. Er traf dabei zuweilen durchaus provozierende Entscheidungen – auch gegen die erklärte Position der Bundesregierung oder der Alliierten. So entschied er zum Beispiel, die Bundesversammlung 1954 nach Berlin einzuberufen. Damit setzte er ein klares Zeichen für Berlin und für die deutsche Einheit. Aber selbstverständlich war Hermann Ehlers auch daran gelegen, mit dieser Entscheidung das Selbstbewusstsein und die Unabhängigkeit des Parlaments zu demonstrieren. Hermann Ehlers setzte sich durch. Seine Entscheidung wurde eine Präzedenzentscheidung. Auch die beiden nächsten Bundesversammlungen 1959 und 1964 fanden - dann beinahe schon selbstverständlich - in Berlin statt.
Meine Damen und Herren, Hermann Ehlers muss eine eindrucksvolle Persönlichkeit von großer Ausstrahlung gewesen sein. Wer ihn persönlich erlebt hat, rühmte seine Fähigkeit, mit Menschen umzugehen. Wohl auch deshalb gelang es Hermann Ehlers, in der parlamentarischen Arbeit einen Stil des respektvollen Umgangs miteinander zu prägen - ein entscheidender Fortschritt angesichts der Tatsache, dass noch im ersten Bundestag Handgreiflichkeiten und Tumulte durchaus an der Tagesordnung waren. Seit Hermann Ehlers gehören Fairness und Toleranz zu den ungeschriebenen Regeln unserer parlamentarischen Etikette, was allerdings nicht heißen soll, dass man nicht auch heute von Zeit zu Zeit an sie erinnern müsste.
Hermann Ehlers' Geschick, Plenarsitzungen zu leiten, ist legendär. Er verblüffte, wie Zeitzeugen berichten, durch ausgezeichnete Kenntnis der Geschäftsordnung und führte die Sitzungen auf souveräne Weise. Eine Anekdote mag das belegen: Konrad Adenauer stand am Rednerpult des Plenums und hielt eine Rede zur Außenpolitik, bei der er immer wieder durch Zwischenrufe unterbrochen wurde. Als es Adenauer zu viel wurde, drehte er sich verärgert um und forderte von Ehlers: Herr Präsident, ich bitte, dafür zu sorgen, dass eine Erklärung des Regierungschefs in Ruhe angehört wird. Daraufhin Ehlers trocken: Herr Bundeskanzler, ich halte die Ordnung nach den Regeln der Geschäftsordnung aufrecht. Zwischenrufe sind durchaus parlamentarisch!
Diese Anekdote ist ein Beispiel dafür, wie souverän und parteipolitisch neutral Hermann Ehlers sein Amt ausübte. Dabei – und das ist kein Widerspruch – war Hermann Ehlers ein durchaus politischer Präsident mit klaren Wertüberzeugungen und ebenso klaren Standpunkten. Dass er zugleich stellvertretender Vorsitzender der CDU war, hat er nie versteckt. Im Gegenteil, als CDU-Politiker bezog er deutlich Stellung und griff auch immer wieder in die Debatten ein. Gelegentlicher Kritik daran pflegte er mit dem Hinweis zu begegnen, dass er schließlich auch Abgeordneter sei und in seinem Wahlkreis gegen Politiker anderer Parteien antreten müsse. Gerade an Hermann Ehlers' Amtsverständnis und Amtsausübung wird deutlich, dass sich unparteiische Amtsführung und politisches Credo nicht ausschließen, sondern - im Gegenteil - dass beides gewissermaßen mit zum unauflösbaren Spannungsfeld dieses Amtes gehört.
Hermann Ehlers hat sich mit Verve für das Parlament eingesetzt. Als überzeugter Parlamentarier ist er gleichwohl nicht geboren worden. Er war ein überzeugter Konservativer, der in einem parlaments- und parteienskeptischen - um nicht zu sagen: parteienfeindlichen - Umfeld aufgewachsen war. Von Demokratie und Weimarer Republik hielt der junge Hermann Ehlers nicht viel. Allerdings stand er als überzeugter Christ auch dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Er hielt Christentum und Nationalsozialismus für unvereinbar und übte als Schriftleiter der evangelischen "Jugendwacht" deutliche Kritik. Das brachte ihn in Konflikt mit den braunen Machthabern. Die Gestapo verhaftete ihn kurzzeitig; später wurde er auch aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen.
Es waren die historischen Erfahrungen von NS-Diktatur und Krieg, die seine Einstellung zur Demokratie grundlegend änderten. Sie haben ihn zum Verfechter der Demokratie und des Parlaments werden lassen. Hermann Ehlers war ein entschiedener Demokrat. Sein Einsatz für die Demokratie aber kam gewiss mehr aus dem Verstand denn aus dem Gefühl. Er war ein "Vernunftrepublikaner", der sich auf rationale, nüchterne, pädagogische Weise für die Demokratie und für das Parlament stark machte und vielleicht gerade deshalb so viele überzeugte.
Der frühe und unerwartete Tod Hermann Ehlers' löste große Bestürzung aus. Die Abgeordneten aller Fraktionen wussten sehr genau, was sie mit ihm verloren hatten. Carlo Schmid, selbst ein parlamentarisches Urgestein, nannte Hermann Ehlers in einem Nachruf den "getreuen Eckart" des Parlaments.
Wie groß das Ansehen Hermann Ehlers' bei den Fraktionen des Hauses war, war schon bei seiner Wiederwahl ein Jahr vor seinem Tod erkennbar gewesen: Als er sich am 6. Oktober 1953 zum zweiten Mal den Abgeordneten zur Wahl stellte, wurde er mit mehr als 93 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Niemals wieder hat ein Bundestagspräsident vom Parlament höhere Zustimmung erhalten.
Hermann Ehlers hat dem Bundestag große Dienste erwiesen. Vieles von dem, was er damals auf den Weg gebracht hat, wirkt bis in die Gegenwart fort und wird auch in die Zukunft reichen.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern uns heute dankbar an Hermann Ehlers, einen bedeutenden Demokraten und Parlamentarier, einen herausragenden Staatsmann.
(Beifall)
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Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2004/pz_0410202