Blickpunkt
Dezember 06/1998
Editorial
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in diesem Jahr wurden wir Zeugen einer politischen Wende in der Bundesrepublik Deutschland. Zum ersten Mal ist in Deutschland eine Regierung unmittelbar durch die Wählerinnen und Wähler abgewählt worden.
Die faire, unaufgeregte und respektvolle Art, wie dieser Regierungswechsel von beiden Seiten vollzogen wurde, beweist ein fest verankertes Demokratieverständnis. Viele Bürgerinnen und Bürger, vor allem in Ostdeutschland, haben erstmals in ihrem Leben erfahren und mitbewirkt, daß sie als Wähler Einfluß nehmen können, daß Wechsel nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich möglich ist.
Unser Parlament sieht sich einem gewaltigen Arbeitspensum gegenüber. Im Mittelpunkt der parlamentarischen Bemühungen wird auch im neuen Jahr der spürbare Abbau der Arbeitslosigkeit in unserem Land stehen, die schwer auf der Gesellschaft lastet. 4,3 Millionen Arbeitslose im Durchschnitt - diese Zahl birgt nicht ermeßbares individuelles Leid. Es wird die Aufgabe des Parlaments und der Regierung sein, denjenigen, die ihre Situation als ausweglos sehen, realistische Perspektiven für einen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zu bieten. Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist eine gesellschaftliche und individuelle Katastrophe. In Ostdeutschland haben viele Menschen das langersehnte Ziel, in einem freien, demokratischen Staat zu leben, mit einem hohen Preis - ihrem Arbeitsplatz - bezahlt.
Mit Jahresbeginn tritt der EURO in Kraft. Gleichzeitig beginnt die sechsmonatige deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Sie gibt uns die Chance und die Verantwortung, die anstehenden Reformen und Erweiterungen der Europäischen Union mit Umsicht voranzutreiben. Wichtig wird sein, das Engagement vieler für dieses demokratische Europa zu fördern und Vertrauen zu schaffen.
Am 23. Mai wird in Berlin der Bundespräsident gewählt, am 24. Mai feiern wir im Rahmen eines Staatsaktes den 50. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Den 50. Geburtstag unserer Republik. Im November 1999 jährt sich zum zehnten Mal der Fall der Mauer, der erste und wichtigste, vom Volk der DDR erzwungene Schritt zur deutschen Einheit.
Nach der Sommerpause 1999 wird das Parlament seine Arbeit in Berlin aufnehmen. Der Umzug wird eine schwierige Operation, wird auch mit Ärger, Frust und vorübergehenden Unzulänglichkeiten verbunden sein.
Mit dem Umzug nach Berlin werden die Grundkoordinaten der deutschen Politik nicht verändert. Ich meine nicht nur das Unaufgeregte, das Unpathetische, das den Bonner Politikstil ausgemacht hat. Ich meine auch die feste Verankerung Deutschlands in Europa, die Politik der guten Nachbarschaft, der Pflicht, für Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt Sorge zu tragen. Zugleich wird nicht alles beim alten bleiben, denn Berlin ist zudringlicher, lauter und widersprüchlicher. Berlin bietet eine neue Chance für Dialog, für Streit, Spannung zwischen Politik und Kultur.
Alle Probleme der deutschen Vereinigung sind in dieser Stadt für jedermann spürbar. Darin sehe ich eine politische Chance.
Bei all diesen Aufgaben bleibt es notwendig, die politischen Entscheidungen durchschaubar zu machen, den Wert der demokratischen, parlamentarischen Verfahren immer wieder neu zu vermitteln. Es sind nicht zuletzt diese Verfahren, die Pluralität, politische und individuelle Freiheit, den Schutz von Minderheiten in unserer Gesellschaft sichern helfen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest
und ein gutes neues Jahr.
Ihr Wolfgang Thierse
Quelle:
http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9806/9806002