Menschen im Bundestag
Detektivarbeit in der Poststelle
Ricarda Schulz arbeitet in der Zentralen Postverteilerstelle des Deutschen Bundestages. Sie macht aus unzustellbarer zustellbare Post.
Ricarda Schulz hat in ihrem Büroschreibtisch keine einzige Briefmarke. Sie sammelt auch keine Briefmarken. Ihre Kollegin, Bärbel Müller, die ihr gegenübersitzt, muss auf die Frage, ob sie eine 1,10-Marke habe, ebenfalls passen. Das ist erst einmal sonderbar, denn Ricarda Schulz und Bärbel Müller haben den ganzen Tag mit Post zu tun. Bergen von Post, Kisten voller Post, DIN-lang-Briefen mit und ohne Fenster, DIN-C5-Umschlägen, DIN-A4-Schreiben, Päckchen und Hüllen, Karten und Werbesendungen. Was Tag für Tag an Postsendungen in ihrem Büro in der Berliner Wilhelmstraße 65 landet und es wieder verlässt, bekommt ein durchschnittlicher Weihnachtsmann wahrscheinlich nicht mal in einer Woche. Aber Briefmarken hat Ricarda Schulz nicht. Braucht sie auch nicht.
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Die Zentrale Postverteilerstelle des Deutschen Bundestages
Es ist ein wenig kompliziert, die Dinge auseinander zu halten, wenn man davon ausgeht, dass an ganz normalen Sitzungstagen im Deutschen Bundestag rund 30.000 Postsendungen zu bewegen sind. Da sind die Briefe, die der Bundestag verschickt: die Abgeordnetenbüros, Referate, Wissenschaftlichen und Parlamentarischen Dienste, Abteilungen, Unterabteilungen, Dienststellen, Pressestellen, Direktorate, Verwaltungen, Dokumentationsabteilungen, Sekretariate ... Damit hat Ricarda Schulz nichts zu tun.
Sie ist für einen Teil der eingehenden Postsendungen zuständig. Für einen besonders schwierigen Teil, muss man sagen.
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Ricarda Schulz
Die meisten ankommenden Briefe und Sendungen haben einen ordentlichen Absender und eine vollständige Adresse. Sie landen im Postdienst in der Wilhelmstraße, Parterre, Raum 0.26-0.31 in gelben, roten und blauen Kisten an und werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach einem ausgeklügelten System in große graue Regale verteilt. Die Regale sind in Dutzende gleich große Fächer geteilt, jedes Fach ist beschriftet. Manche Bezeichnungen erschließen sich auch einer nicht Eingeweihten, andere nicht. Wer weiß schon, was ZA4/PSD oder ZT2/ZT1/ZT-GM oder IKH Verwaltung oder UAL 1.WF bedeuten? Mit den Begriffen "Kindertagesstätte" oder "Petitionsausschuss" ist es da schon einfacher.
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Ricarda Schulz im Postverteilungsraum.
Tag für Tag aber kommen auch eine Menge Postsendungen in die Wilhelmstraße, die nicht so einfach in eines der vielen Fächer verteilt werden können. Vielleicht ist der Absender vollständig und in Ordnung, aber die Adresse gibt Rätsel auf. Wenn da steht "Herr Müller, Deutscher Bundestag, Verwaltung", können die Postverteilerinnen und Postverteiler beim besten Willen nicht viel tun. Es ist nun mal so, dass einige Männer namens Müller in der Verwaltung des Bundestages arbeiten. Da kann man sich nicht auf ein Zufallsprinzip verlassen nach dem Motto: "Welcher Herr Müller hat lange keine Post bekommen?"
An diesem Punkt ist die Arbeit von Ricarda Schulz und ihren beiden Kolleginnen Bärbel Müller und Regine Breitfeld gefragt. Einmal pro Stunde geht eine von ihnen runter in den großen Postverteilungsraum und packt eine große Kiste voll mit eingegangenen Postsendungen, die nicht zugeordnet werden können. Dann beginnt die Recherche, die manchmal zu einem kleinen Kriminalstück werden kann.
Das Büro von Ricarda Schulz ist nicht allzu groß. Zwei Frauen an zwei Schreibtischen, zwei Computer, ein für den Raum fast zu großer, eigentlich aber zu kleiner Reißwolf, ein paar Regale und Schränke. Alles nach praktischen Gesichtspunkten aufgestellt, aber raumgreifende Gesten sind nicht drin. Nach dem Umzug ins Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wird alles viel besser.
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Detailansichten der Zentralen Postverteilerstelle des Deutschen Bundestages
Ricarda Schulz ist optimistisch. Nicht nur, was den Umzug anbelangt, sondern auch sonst. Sie ist ein optimistischer und fröhlicher Mensch. Und wenn sie lacht, wagt sie doch raumgreifende Gesten. Dann bewegen sich ihre silbernen Ohrringe mit dem kleinen Strass heftig hin und her, und der Haarschmuck nimmt den Takt auf. Sie hat Spaß am Erzählen, beginnt ihre Geschichten am Anfang und setzt zum Schluss eine gute Pointe.
Im August 1999 begann sie im Deutschen Bundestag zu arbeiten. Vorher war Ricarda Schulz beim Statistischen Bundesamt beschäftigt. Sie hat im Bereich Einkommens- und Verbraucherstichprobe gearbeitet und ist durch die Lande gefahren, um Preisvergleiche anzustellen. Da ist sie in so viele Läden und Geschäfte gekommen, dass es vielleicht für ein halbes Leben reicht.
Der Anfang in der Poststelle war geradezu ein Meisterstück. Zwanzig unausgepackte Kisten und eine Logistik, die erst geschaffen werden musste. Da haben die Frauen vier Wochen lang nichts anderes gemacht, als das Material in den Kisten zu bearbeiten, mit wenigen Hilfsmitteln und furiosen Improvisationen. Inzwischen sind die Hilfsmittel da – zu einem nicht geringen Teil selbst erarbeitet.
Für die Arbeit von Ricarda Schulz ist die alphabetische Reihenfolge wichtig – Rangordnungen spielen da vorerst eine untergeordnete Rolle. In den vergangenen zwei Jahren wurde ein gut funktionierendes Arbeitsset geschaffen, auch Dank der Eigeninitiative von Ricarda Schulz und ihren Kolleginnen. Das Equipment besteht vorerst aus diversen Adressbüchern und -listen, dem Organigramm des Deutschen Bundestages, auf dem alle Bereiche da eingezeichnet sind, wo sie hingehören, und einer Datenbank, mit der sie im Computer recherchieren können.
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Detailansichten der Zentralen Postverteilerstelle des Deutschen Bundestages
Mit der Datenbank kann man nach Namen oder Ressorts und Abteilungen suchen. Das ist eine gute Sache. Weniger gut ist, dass gegenwärtig immer nur eine der beiden Frauen mit der Datenbank arbeiten kann. Zugriff zu zweit ist nicht möglich. Deshalb bekommt immer eine die nicht zuordenbaren Namensbriefe und die zweite die andere Post, deren Adressaten nicht klar sind. Zusätzlich zu all diesen Sachen kommen einmal im Monat die Mitteilungen der Bezüge, Gehälter und Löhne für die Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und müssen verschickt werden.
Ricarda Schulz und ihre Kolleginnen haben sich selbst eine Menge brauchbarer Papiere erstellt. Listen, die nach bestimmten Kriterien geordnet sind, zum Beispiel nach Botschaften, Behörden, Parteien, Parlamentariergruppen, und ständig aktualisiert werden, sind sorgfältig gepflegte Arbeitsmittel. Dazu lesen sie viele Zeitungen, um sich immer auf dem Laufenden zu halten, neue Namen und die dazugehörigen Funktionen in die Listen aufzunehmen oder auch Namen zu entfernen, wenn jemand in Pension geht.
Nicht zu vergessen die Stempel, mit denen der vorangegangenen Recherche ein würdiger Abschluss gegeben wird. Da steht dann in blauer Stempelfarbe "Empfänger mit den angegebenen Daten im Deutschen Bundestag nicht zu ermitteln. Zurück an Absender" oder "Unbekannt zurück" oder "Empfänger nicht mehr im Bundeshaus/Bundestag" oder manchmal auch "Empfänger verstorben". Einer der vielen Stempel im Büro ist allerdings eine rechte Nervensäge. Er gibt Minute für Minute ein lautes "Klack" von sich. Dann ist die Stempeluhr wieder vorgerückt. Mancher Briefeingang ist eben auf die Minute genau festzuhalten.
Gegenwärtig muss Ricarda Schulz zum Öffnen der Briefe dünne Latexhandschuhe anziehen und ein Desinfektionsspray auf dem Schreibtisch deponieren. Notwendige Vorsichtsmaßnahmen gegen mögliche Milzbranderreger, die manchmal ein ungutes Gefühl aufkommen lassen, von dem sie sich aber nicht zu sehr beeindrucken lassen will. Sie liebt ihre Arbeit und wird es sich nicht vermiesen lassen.
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Detailansichten der Zentralen Postverteilerstelle des Deutschen Bundestages
Die meisten Postsendungen können noch am gleichen Tag an den richtigen Empfänger geschickt werden, fast alle Recherchen führen letztlich zum Erfolg. Allerdings muss viel telefoniert werden, und oft hilft das Internet weiter. Ricarda Schulz kennt unglaublich viele Namen und die dazugehörigen Arbeitsplätze. Die Menschen selbst meist nicht. Manchmal macht sie sich nach der Stimme am Telefon ein Bild. Und manchmal stellt sie irgendwann fest, dass der Mann oder die Frau nicht zur Stimme passt oder umgekehrt. Oder doch.
Einige Recherchen aber dauern länger. Einmal zum Beispiel kam ein Brief mit Freikarten für eine Eiskunstlaufveranstaltung. Nicht nachvollziehbar, wer der glückliche Empfänger sein sollte. Es waren viele Karten, und so hing wohl auch ein schöner Abend für viele Menschen an diesem Brief. Ricarda Schulz versuchte alles und hatte kein Glück. Dann rief sie beim Veranstalter an und fragte, für wen wohl diese Freikarten gedacht sein könnten. Der bat um Geduld, er wolle es prüfen. Ricarda Schulz blieb eine Stunde länger im Büro, bis der Rückruf kam und die Sache geklärt werden konnte. Die Karten waren für einen Abgeordneten gedacht, der sie wiederum weiterverschenken wollte.
Briefe werden von Ricarda Schulz und ihren Kolleginnen erst dann geöffnet, wenn keine andere Möglichkeit besteht, den Adressaten oder aber den Absender herauszufinden. An dieser Stelle sagt Ricarda Schulz den schönen Satz: "Wir dürfen nur öffnen, was wir öffnen dürfen", lauscht dem Gesagten ein paar Sekunden hinterher, um dann laut zu lachen über diese kryptische Satzkonstruktion. Am Ende ist es doch einfach. Wenn ein Brief kein Porto hat, keinen Absender und der Adressat nicht erkennbar ist, wird er geöffnet, mit der Hoffnung, im Umschlag zweckdienliche Hinweise zu finden. "Aber wir haben mehr Namen zu suchen als Briefe zu öffnen", schiebt die 48-Jährige hinterher und lacht schon wieder. Der Satz ist auch nicht schlecht.
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Detailansichten der Zentralen Postverteilerstelle des Deutschen Bundestages
Am Ende ist ziemlich klar, warum Ricarda Schulz im Büro keine Briefmarken braucht. Und sammelte sie welche, käme sie vielleicht in Versuchung, bei so manchen hübschen Exemplaren aus fernen Ländern. Also besser nicht sammeln, sondern Dire Straits und Tina Turner hören. Das macht sie nämlich gern.
Kathrin Gerlof