Essay
Wenn die soziale Anerkennung zerfällt
von Wilhelm Heitmeyer
Wenn vom Desaster in Erfurt die Rede ist, sind Deutungen wie die einer "Heimsuchung" oder "schwerer psychischer Störungen" höchst problematisch. Diese Blickwinkel sind zwar entlastend, trennen aber das Ereignis und seine Vorgeschichten von unserer gesellschaftlichen Realität ab und stiften so eine mehr als prekäre Beruhigung.
|
Wilhelm Heitmeyer.
Damit wird auch verdrängt, dass Gewalt für jedermann verfügbar ist, effektiv wirkt und auch deshalb Attraktivität aufweist, weil sie Klarheit schafft: so oder so – und oft endgültig mit viel Leid.
Diese "Wahl" wird immer dann getroffen, wenn keine anderen Konfliktlösungsmuster mehr zur Verfügung stehen, weil emotionale Kälte, bürokratische Härte und soziale Isolation zusammenwirken. So scheint weder Vermeidung der Eskalation (etwa durch Schulwechsel) noch Verhandlung (etwa zur Rücknahme des wahrscheinlich als unverhältnismäßig empfundenen Schulverweises) als sinnvoll empfunden worden zu sein. Nur noch Vergeltung nicht einmal gegen einzelne Menschen, sondern gegen Vertreter der inzwischen verhassten Institution ließ der "Tunnelblick" übrig.
Die These ist, dass die dramatische Verengung auf Vergeltung durch extreme Gewalt am Ende eines Anerkennungszerfalls steht. Anerkennungszerfall bedeutet nicht bloß den Verlust von Prestige, sondern löst Persönlichkeit auf, weil niemand auf Dauer ohne Anerkennung leben kann. Der Fall ins Bodenlose steht zur Debatte. Auf existenzielle Fragen der sozialen Integration (Wer braucht mich? Wer nimmt meine Stimme ernst? Wohin gehöre ich?) gab es offensichtlich keine sinnhaften Antworten mehr, so dass insbesondere aufgetürmte Ungerechtigkeitsempfindungen sowohl den Kontrollverlust über den weiteren Lebensweg als auch den Kontrollverlust über die Konsequenzen für andere in Gang setzt.
Die Frage, die nun die Gesellschaft (wahrscheinlich wieder nur kurzfristig) umtreibt, ist, an welchen Stellen eines solchen Prozesses von Anerkennungszerfall und Kontrollverlust interveniert werden kann?
Eltern haben zu überprüfen, welchen Statusdruck sie aufbauen und ob hinreichend Zeit für notwendige "Auseinandersetzungen" (im konstruktiven Sinne) zur Verfügung steht. Gewalt verherrlichende Medien können verboten werden, weil man sie nicht braucht. Aber es wird wohl nur zur freiwilligen Selbstkontrolle reichen. Die ist kaum wirkungsvoll, da der Markt sich durchsetzt – wie immer. Das Internet macht ohnehin einen Strich durch die Rechnung. Wirkung ist hier kaum zu erwarten, zumal diese Medien zwar Handlungsmuster, aber keine Ausführungsmotive bereitstellen.
Die Wirkung eines verschärften Waffenrechts ist ebenfalls bescheiden, weil sich – wie im Fall Erfurt – bestenfalls die Präzision der Tat, aber nicht die Ausführung selbst verhindern lässt, denn der illegale Markt mit seinen zerstörungsmächtigen Waffen steht allen offen. Die Schule müsste vor allem einen Paradigmenwechsel vornehmen. Keine abstrakte Werteerziehung (oft als Tugendverordnung getarnt) ist wirkungsvoll, weil Belehrung über proklamierte Menschlichkeit gegen Erfahrung des prämierten Erfolgs um jeden Preis nicht ankommt. Stärken zu suchen anstatt nach Schwächen zu fahnden, wäre ebenso wichtig wie das intensive Training von unterschiedlichem Konfliktlösungsverhalten und die Eröffnung äquivalenter Anerkennungsmöglichkeiten statt der immer stärker forcierten und belohnten wirtschaftlich verwertbaren Leistungen.
Und selbst diese einzelnen Aktivitäten garantieren keinen Automatismus gegen Gewalt wie es auch keinen programmierten Weg in die Gewalt gibt. Gleichwohl besteht die Aufgabe, relevante Bereiche zu markieren, damit keine Eskalationen entstehen. Hier wird dafür plädiert, an den Problemen des Anerkennungszerfalls und der Kontrollverluste anzusetzen. Dies sind Folgen von gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen, die individuell in bestimmten Situationen verheerende Folgen haben.
Nur wie ist die Indifferenz gegenüber dem Anderen in Anerkennung umzukehren, wenn die Indifferenz erst meine eigene "Freiheit" eröffnet?
Wilhelm Heitmeyer wurde 1945 geboren und ist Professor für Sozialisation. Er studierte Erziehungswissenschaft und Soziologie. Seit 1982 lehrt er an der Universität Bielefeld und ist seit 1996 Leiter des dort angesiedelten Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gewalt, Rechtsextremismus, ethnisch-kulturelle Konflikte und Integrations-/Desintegrationsprozesse in modernen Gesellschaften.