Der Bundestag vor der Sommerpause
Der Endspurt
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Debatte im vollbesetztem Plenum. |
Ein Kollege verabschiedet sich vom anderen am Freitag in die Sommerpause. Und am Montag sind doch beide wieder da und arbeiten weiter, als gäbe es keinen Urlaub. Gibt’s nicht? Gibt’s doch. Jedenfalls wenn Abgeordnete in die so genannte „Sommerpause“ gehen. Viele Parlamentarier machen gar keinen Urlaub, die meisten allenfalls zwei Wochen. Dabei hätten sie sich Erholung wirklich verdient – nach einem „Endspurt“, der es an Intensität und Themenvielfalt wahrhaft in sich hat.
Superhektisch. So beschreibt Volker Beck die letzten Sitzungstage vor der „Sommerpause“. Der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion. Die Geschäftsführer halten das parlamentarische Getriebe in Gang und achten auch diesmal darauf, dass es nicht heiß läuft.
Die Regierungserklärung des Kanzlers zu „Deutschland bewegt sich“, das Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit, der Beitritt von zehn Staaten zur Europäischen Union, die EU-Agrarreform, die Bestrafung von Sexualstraftätern, eine neue Enquete-Kommission zur „Kultur in Deutschland“, die Welthandelsrunde, die Abrüstung, eine umfassende Reform der Gemeindefinanzen, die Ausweitung des Dosenpfandes, die Zuständigkeiten bei der Gentechnik, die ökologische Hochwasservorsorge, die Erhöhung der Tabaksteuer – von jedem einzelnen dieser Themen kann die Presse tagelang leben. Aber für den Bundestag bedeuteten sie nur einen Ausschnitt aus dem Pensum für die letzten Sitzungstage vor der Pause – nachdem jeder einzelne Punkt in den Fachausschüssen gründlich vorberaten worden war. Und doch illustriert allein die Aufzählung, was dahinter an organisatorischer Arbeit zu leisten ist – und zwar unter „beispiellosem Termindruck“, wie Volker Beck einräumt.
„Streckenweise sehr hektisch“ lautet denn auch das Urteil von Volker Kauder, dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion. Er sieht auch noch einen weiteren Grund dafür, dass es mal wieder recht eng wurde. „Mit einigen Vorlagen kam die Bundesregierung sehr spät.“
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Auf dem Weg in die Fraktionssitzungen. |
Kurzfristig eingeschoben
Als zu knapp empfand die Union auch die Fachberatung zur Dosenpfand-Novelle. Die Anhörung von Experten habe nicht ausreichend ausgewertet werden können, bemängelte die Opposition vor der Schlussabstimmung am Freitag vor den Ferien. Die Lösung: Es wurde vor der abschließenden Beratung im Plenum noch eine außerordentliche Ausschusssitzung am frühen Freitagmorgen einberufen, um die Bewertung noch rechtzeitig durchziehen zu können. Was weniger gut planbar war: die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses. Wenn der einen Kompromiss zwischen Bundesrat und Bundestag gefunden hat, muss der neue Vorschlag erneut durch Parlament und Länderkammer, damit er Gesetz werden kann. Und natürlich soll auch das nicht warten. Mitten im Schlussspurt kam am Mittwochabend also noch die Förderung der Kleinunternehmen mit einer neuen Mittelstandsbank hinzu. „Das hatte keine große Öffentlichkeit, aber das ist trotzdem ein wichtiges Gesetzesvorhaben“, sagt Kauder. Und deshalb sollte auch dieses Anliegen nicht bis nach der Sommerpause warten. Am Donnerstag kurzfristig eingeschoben, beraten, beschlossen.
Aber das, was in öffentlicher Sitzung anstand, war längst nicht alles, womit sich die Abgeordneten im „Endspurt“ zu befassen hatten. Vor allem in den Koalitionsfraktionen jagte eine Sondersitzung die andere. „Das war ein unglaubliches Arbeitspensum“, weiß der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Wilhelm Schmidt. Und er vergisst dabei auch nicht, das „gewaltige Pensum“ lobend zu erwähnen, das die Ministerien auf bemerkenswerte Art an den Tag gelegt hätten. Weite Teile der „Agenda 2010“ seien nicht nur in Form von eingebrachten Gesetzen einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht worden. Darüber hinaus hätten andere Teile schon einmal die erste Konkretisierung in der Fraktion gefunden. „Die haben dann grundsätzlich grünes Licht der Fraktion bekommen, damit in der Sommerpause die Fachgremien weiter daran arbeiten können.“ Also ein doppelter Endspurt, damit die zügige Bearbeitung keinen Sommerbruch erleidet.
Sorgfältig planen
So hektisch das alles auch wirkte, die „alten Hasen“ des Parlamentsgeschäftes wissen, dass dies wiederkehrende Phasen im politischen Alltag sind. Vor Ostern, vor der Sommerpause und vor Weihnachten sei das immer wieder so, erinnert sich Jürgen Koppelin, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion. Das müsse man sorgfältig im Vorfeld vorbereiten und planen. Dann sei es auch als zumindest relativ „normales Geschäft“ zu handhaben.
Sowohl bei der SPD als auch bei Bündnis 90/Die Grünen macht sich trotz der herausragenden Anspannung gleichwohl ein zufriedenes Gefühl breit. „Wir sind sehr gut aufgestellt“, lautet für Volker Beck die Bilanz zu Beginn der Sommerpause, denn „die Bürger sehen, dass die Strukturreformen jetzt energisch angepackt werden“. Deshalb ist das Ende der Sitzungszeit vor der „Pause“ diesmal auch nicht der Übergang zu wirklicher Entspannung. Ganz im Gegenteil. In der Klausur von Neuhardenberg habe die Regierung, erklärt Beck, den Weg zu einem „weiteren aufhellenden Impuls für die Wirtschaft“ in Form einer vorgezogenen Steuerentlastung gewiesen und diesen mit einem Dreiklang (Subventionsabbau, Veräußerungsgewinne, Schuldenfinanzierung) verbunden. Ende der Sommerpause sollen die Details stehen. Das bedeutet aber, dass die dafür zuständigen Fachpolitiker in den Wochen bis dahin gut beschäftigt sind.
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Kabinettsklausur in Neuhardenberg. |
Jede Woche treffen sich die Mitglieder der geschäftsführenden Fraktionsvorstände auch in der so genannten Pause. Mitunter geht das auch per Telefonschaltkonferenz. Manchmal auch auf die Weise, dass einzelne Mitglieder, die gerade in ihren Wahlkreisen zu tun haben, per Telefon mit der in Berlin tagenden Runde verbunden sind. Für das gesamte Publikum war sichtbar, dass die Beratungen um die Gesundheitsstrukturreform weitergehen. Auch dies ist ein Punkt, der zunächst für Hektik sorgte. Denn ursprünglich war geplant, das von der Regierungskoalition auf Grund einer „Formulierungshilfe“ vom Gesundheitsministerium eingebrachte 400-Seiten-Paket in einer Sondersitzung Anfang Juli noch in zweiter und dritter Lesung abzuschließen und an den Bundesrat weiterzuleiten, damit möglicherweise ein Vermittlungsverfahren unmittelbar nach der Sommerpause beginnen könnte.
Doch die ersten Sondierungen zwischen Koalition und Opposition hatten die Hoffnung genährt, sofort eine erfolgreiche Suche nach einer gemeinsamen Lösung beginnen zu können. Die Folge: Die Sondersitzung wurde abgesagt, die Gesundheitspolitiker strichen ihre Vorhaben für die Sommerpause und verhandelten stattdessen täglich miteinander – und ein größerer Kreis hielt sich zudem bereit, die jeweils gefundenen Verhandlungsergebnisse in den verschiedensten Gremiensitzungen beurteilen und beraten zu können.
Die Arbeit endet nie
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Sommerfeste, Pressetermine und Ausschusssitzungen. |
Der Juli wurde also schon einmal für die Nacharbeit in Sachen Steuer, Subventionen und Gesundheit verbucht. Zusätzlich stand bereits zu Beginn der „Pause“ fest, dass Ende August ganzwöchige Fraktionsklausuren angesetzt würden – mit möglicherweise noch davor angesetzten Fraktionssitzungen. Also schrumpfte die Zeit echter Pause von vermeintlichen neun Wochen auf gerade einmal drei Wochen zusammen. Aber selbst für die gilt: Jede Fraktion ist grundsätzlich immer präsent. „Wir wechseln uns traditionell als Parlamentarische Geschäftsführer im Wochenrhythmus ab“, berichtet Jürgen Koppelin.
Auch die anderen Fraktionen kennen ähnliche Regelungen. Aus diesem Brauch hat sich sogar ein Feierritual am Rande als Tradition entwickelt. Diejenigen, die für die anderen in Bereitschaft in der Hauptstadt bleiben, die also den Dienst als „Stallwache“ versehen, treffen sich in der Sommerpause in der baden-württembergischen Landesvertretung zur „Stallwächterparty“ – aber nicht selten ergeben sich auch dort wieder wichtige Dienstgespräche.
So wollen sich die Fraktionschefs erholen
Ein wenig Urlaub ist doch drin: Franz Müntefering (SPD) fährt nach Norderney, Angela Merkel (CDU/CSU) zu den Bayreuther Festspielen und dann vielleicht noch irgendwo anders hin, Krista Sager nach Dänemark, Katrin Göring-Eckardt (beide Bündnis 90/Die Grünen) an den Lago Maggiore und Wolfgang Gerhardt (FDP) mit der Familie für zwei Wochen ins Ausland.
Natürlich darf der Wahlkreis in derartigen Zeiten nicht zu kurz kommen. Volker Kauder etwa macht in diesem Jahr überhaupt keinen Urlaub. Stattdessen bleibt er für Berliner Verpflichtungen auf „Stand-by“ – und verbringt den Rest der Zeit mit einer Reise durch seinen Wahlkreis. Die „Volker-Kauder-Sommertour“ führt im Beetle Cabriolet von Dorf zu Dorf, von Fabrik zu Fabrik, von Bauernhof zu Bauernhof. Und auch die übrigen 602 Abgeordneten nutzen die Pause in Berlin, um in ihrem Wahlkreis mal mehr als nur ein halbes Wochenende präsent sein zu können.
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Letzte Amtshandlung: Kofferpacken und Grundreinigung. |
So zieht sich auch durch die Sommerzeit eine weitgehende Arbeitsteilung der Abgeordneten. Mal sind die einen in Berlin gefragt, weil „ihr“ Thema gerade wieder dringend zu besprechen ist, auch wenn es nicht um Bundestagssitzungen geht, mal können die anderen sich ihren Wahlkampfverpflichtungen widmen. Ein „Urlaubstag“ in der öffentlichen Wahrnehmung besteht für Volker Beck in Wirklichkeit aus einer Sitzung der Fraktionsführung, aus einer Besprechung zur Entwicklung des Föderalismus, aus einer Sitzung zur Zuwanderung und einer Beratung zur Gentechnik. Die Arbeit endet nie. „Vieles ist der aktuellen Lage geschuldet“, erklärt Wilhelm Schmidt. Der außerordentlichen Situation in Deutschland müsse der Bundestag auch in der vermeintlichen Sommerpause Rechnung tragen. „Da können wir nicht wochenlang die Beine hochlegen.“
Wenigstens aber wird das Plenum, werden die meisten Ausschusssitzungssäle und werden auch viele Büros nicht ständig benötigt. Und das bedeutet, dass nun die große Stunde der Haustechnik schlägt. Alles, was immer schon mal wieder gewartet, repariert, erneuert, verbessert werden musste, aber wegen der damit verbundenen Störungen des Parlamentsablaufs zurückgestellt worden war, kommt nun an die Reihe. Das beste Beispiel sind die automatischen Systeme, die bei Beanspruchung nicht hundertprozentig funktionieren, bei denen immer wieder der Handbetrieb vorübergehend nötig wurde – und die völlig „heruntergefahren“ werden müssen, damit sie besser eingestellt werden können. Faustregel: Die Grundregie für jedes System kann nicht erneuert werden, ohne das System abzuschalten. Im laufenden Parlamentsbetrieb? Undenkbar.
Deshalb gibt es in der Bundestagsverwaltung einen minutiösen Plan, was in den Sommerwochen alles erledigt wird. Nie wird das Wort „Pause“ in diesen technischen Referaten kleiner geschrieben als in den Wochen der offiziellen Pause. Da kommt etwa die automatische Belüftung auf Vordermann, indem die Steuereinrichtungen ausgetauscht werden. Und natürlich sind die regelmäßigen Reinigungs- und Wartungsintervalle auch mit Blick auf die parlamentarische Pause eingeteilt. Über dem Plenarsaal das Sonnensegel mit seinen Motoren überprüfen zum Beispiel oder durch die Kuppel wieder für klare Sicht sorgen – nur zwei Beispiele von vielen, die in der Sommerpause zu erledigen sind.
Aber verlassen kann sich niemand darauf, dass Plenum, Ausschüsse und Büros tatsächlich während der offiziellen Pause nicht gebraucht werden. Wie entwickelt sich die Lage in Afrika? Muss das Bundestagsmandat verlängert werden? Wie sieht die Linie in der Gesundheitspolitik aus? Sollte vorab in einer Sondersitzung das Verfahren beschleunigt werden? Die Politik geht weiter. Auch wenn der Bundestag offiziell „Pause“ macht – er ist in Wirklichkeit weiterhin ständig präsent. Daher müssen alle Abgeordneten hinterlassen, wie sie wann und wo erreichbar sind. Für eine telefonische Fachberatung. Oder für einen Rückruf zu einer Sondersitzung. Die Parlamentarier gehen also mit dem Wahlspruch der Pfadfinder in die Pause: Allzeit bereit.
Gregor Mayntz