Nach einem harten Wahlkampf feiern oder demontieren Parteien gerne ihre Spitzenkandidaten - je nach dem Ergebnis der Wahl. Nun ist es nach dem 18. September schwer geworden, klar zwischen Siegern und Verlierern zu unterscheiden: Die eigentlichen Verlierer - geht man nach den Prozenten - werden wohl die neue Bundesregierung bilden und mutieren zu Siegern, und die Gewinner - die kleinen Parteien, die entweder zulegten oder zumindest kaum Prozentpunkte verloren haben - gehen als Verlierer in die Opposition. Und dem kleinsten dieser verlierenden Sieger ist obendrein seine wichtigste Führungspersönlichkeit abhanden gekommen. Joschka Fischer hat seiner Ankündigung, in die zweite Reihe zurücktreten zu wollen, um bei den Grünen einen Generationenwechsel einzuleiten, ein sichtbares Zeichen folgen zu lassen: Sein Stuhl auf dem Podium in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg blieb leer. "Vielleicht", so ließ es der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer durchblicken, "hatte er Angst, dass es rührselig wird."
Dank für Fischer, der die Grünen 1998 in und dann sieben Jahre durch die Höhen und Tiefen der rot-grünen Koalition geführt hat, gab es natürlich trotzdem: Der zurückliegende Wahlkampf sei für "Joschka brutal hart und für uns extrem motivierend gewesen", dankte Bütikofer. Mehr als 100.000 Menschen hätten ihn auf seiner Wahlkampftour live gehört, er sei zudem "Brückenkopf in gesellschaftliche Millieus" gewesen, die "wir sonst nicht erreicht hätten". "Vielen Dank für die letzten 20 Jahre - und wir werden beieinander bleiben." Es folgte ein artig-freundlicher Applaus für jenen Mann, der bis vor wenigen Wochen halb spöttisch, halb bewundernd noch als "heimlicher Parteivorsitzender" und "Gott Vater" tituliert wurde.
Auch wenn die Grünen von sich gerne behaupten, sie verweigerten sich jeglichem Personenkult, will das Parteivolk seine "Helden" aber trotzdem feiern und bedachte Hans-Christian Ströbele - die "Ein-Mann-Volkspartei" (Bütikofer) - mit minutenlangem, frenetischen Beifall für dessen Sieg in seinem Berliner Wahlkreis. Ströbele holte dort mit 43 Prozent der Erststimmen das einzige grüne Direktmandat. Nach weiteren Danksagungen für Claudia Roth, Renate Künast und Kerstin Andreae für ihre guten Wahlkreisergebnisse folgten die verabschiedenden Dankesworte für Antje Vollmer, Christa Nickels und Rezzo Schlauch. Auch ihr Rückzug aus der Politik steht für den Generationswechsel in der Partei.
Doch der eigentliche Grund, aus dem sich die rund 750 Delegierten von Bündnis 90/Die Grünen in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg versamelt hatten, war, eine Bilanz nach der Bundestagswahl zu ziehen, die Partei auf die neue Rolle als Oppositionspartei vorzubereiten und neue strategische Optionen auszuloten. Im Klartext: Auf welche politischen Fragen müssen neue Antworten gefunden werden und mit welchen Parteien wäre eine Koalition in der Zukunft denkbar?
Die Bestandsaufnahme der beiden Parteivorsitzenden Claudia Roth und Reinhard Bütikofer fiel freundlich aus: Mit 8,1 Prozent hätten die Grünen das drittbeste Ergebnis bei Bundestagswahlen in ihrer Geschichte errungen und ein wesentlich besseres, als insgeheim befürchtet. Bei den Jungwählern liege man vor FDP und Linkspartei und in den neuen Ländern sowie in Niedersachsen und Bayern habe man deutlich zulegen können. Das erklärte Wahlziel, eine schwarz-gelbe Koalition zu verhindern, habe man erreicht, und die Abwahl von Rot-Grün ginge nicht auf das eigene Konto, sondern auf das der SPD. Inhaltlich habe man bei den Wählern mit ökologischen und verbraucherschutzpolitischen Themen sowie der Strategie "Weg vom Öl" punkten können. Defizite seien sicherlich im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu verzeichnen - in diesen Be- reichen müsse sich die Partei stärker engagieren.
"Opposition ist kein Mist" - mit dieser Umkehrung des bekannten Ausspruches von SPD-Chef Franz Müntefering stimmte Claudia Roth die Delegierten auf die zukünftige Rolle der Partei ein: "Die große Koalition braucht eine starke grüne Opposition. Und die wird sie bekommen - das versprechen wir." Auch andere führende Grüne zeigten sich kämpferisch. Jürgen Trittin, der für seine Rede viel Applaus erntete, rief den Delegierten zu: "Auf ans Werk! Lasst uns eine muntere Opposition sein!"
Doch die entscheidende Frage, die im Raum stand, war die nach möglichen neuen Koalitionspartnern. Claudia Roth verteidigte noch einmal das mit der Union geführte Sondierungsgespräch über die Möglichkeiten für eine so genannte Jamaica-Koalition. Dies habe gerade in Bayern viel zur "Entdämonisierung" der Grünen beigetragen. Die Gespräche seien gescheitert, argumentierte Roth, weil die Union "keinerlei Konsequenzen" aus ihrem Scheitern bei der Wahl gezogen habe. Eine solche Koalition wäre "ein Verrat an unseren Inhalten gewesen." Und: "Inhalte gehen vor Macht!" Diese Parole sollte zum Leitmotiv für die gesamte Debatte werden. So ganz trauen wollten ihr aber nicht alle. Matthias Albrecht von der Grünen Jugend schimpfte, dass dieses Motto schon früher unterlaufen worden sei. Er erinnere sich noch gut an das Argument "Wollt ihr aus der Regierung fliegen", als es um die Zustimmung der Grünen zu Auslands- und Kampfeinsätzen der Bundeswehr gegangen sei.
Einig waren sich die Grünen weitestgehend darin, dass es keine Äquidistanz zu anderen Parteien im Vergleich zur SPD gebe. "Wir haben mit der SPD mehr erreicht, als wir mit der CDU je hätten verhandeln lönnen", meinten Renate Künast und andere Redner. Durchgängig war der Tenor, die Union sei zu marktradikal, die FDP zu neoliberal und die Linkspartei zu staatsfixiert. Dass das vielzitierte Ende des so genannten rot-grünen Projektes kein Zustand von Dauer sein muss, dies wünschte sich auch die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerschaftsbundes, Ursula Engelen-Käfer, in ihrer Gastrede vor den Delegierten: Zum einen zeigte sie sich sehr erfreut darüber, dass sich "die Grünen nicht zum Steigbügelhalter für eine Politik à la Westerwelle" gemacht und einer Koalition mit der Union und der FDP eine Absage erteilt hätten. Das Motto "Inhalte vor Macht" sei im politischen Geschäft keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie sicherte den Grünen die Unterstützung für eine konstruktive Opposition zu. Auch in Zunkunft werde es gemeinsame Projekte zwischen Rot, Grün und den Gewerkschaften geben. Doch es gab auch Stimmen, die deutlich machten, dass eine Öffnung Richtung Union kein grünes Tabu mehr sein dürfe: "Der rot-grüne Treueschwur" sei "am Ende", eine Koalition schließlich "kein katholisches Eheversprechen". Die SPD, so war zu hören, hielte sich schließlich auch jede Option offen und koaliere je nach Lage mal mit der Union, der FDP oder der Linkspartei.
Hans-Christian Ströbele warf hingegen sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale, um zukünftige Koalitionspartner eher im linken Spektrum zu suchen: Er habe sein gutes Wahlkreisergebnis - für das "ein alter Mann lange stricken muss" - schließlich durch das konsequente Festhalten an linken Positionen errungen. Und dafür erntete er einen deutlich zustimmenden Applaus. Es war überhaupt auffällig, dass die Grünen ihre eigene Partei wieder viel öfter als "links" titulierten, als dies in den vergangenen sieben Regierungs- jahren der Fall gewesen ist. Vielleicht war es auch ein Reflex darauf, dass viele Kommentatoren die Partei bereits vor der Bundesdelegiertenkonferenz in ihrer Berichterstattung in der politischen Mitte verorteten.
Insgesamt verlief die Debatte um mögliche zukünftige Koalitionspartner jedoch ruhig und unaufgeregt. Und so wurde der Leitantrag des Bundesvorstandes (siehe Kasten links) ohne große inhaltlichen Änderungen von den Delegierten angenommen. Klar ist eines: Die Grünen haben in den vergangenen Jahren die Vorzüge einer Regierungsbeteligung - trotz vieler schmerzhafter Kompromisse - schätzen gelernt. Und deswegen wollen sie auch genau da wieder hin. Oder wie es es Michael Merkel vom Kreisverband Leipzig gegen Ende der mehrstündigen Diskussion formulierte: "Die besten Inhalte nützen nichts ohne Macht." Und: "Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel fliegen." Zum "Fliegen" könnte sich - zumindest theoretisch - schon bald wieder eine Gelegenheit ergeben. Allein im komenden Jahr stehen fünf Landtagswahlen an: Im März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie im September in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Allerdings schätzen die Grünen die Chance auf eine Regierungsbeteiligung gerade in diesen Bundesländern eher gering ein.
In Sachsen-Anhalt erhielten sie bei den Landtagswahlen 2002 gerade mal 2,1 Prozent und verpassten zum wiederholten Male den Einzug ins Parlament. Nicht viel besser sieht es an der Ostseeküste aus: Bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern kamen die Grünen gerade mal auf 2,6 Prozent und sind ebenfalls nicht im Landtag vertreten. Zwar konnte die Partei bei den Bundestagswahlen in Sachsen-Anhalt und Meck-lenburg-Vorpommern im Vergleich zulegen, landete aber mit 4,1 beziehungsweise 4,0 Prozent in beiden Ländern unter der Fünf-Prozent-Marke.
In Rheinland-Pfalz sind die Grünen zwar im Landtag vertreten (Wahlen 2001: 5,2 Prozent), aber der sozialdemokratische Ministerpräsident Kurt Beck koaliert dort lieber mit den Liberalen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass er daran etwas ändern möchte.
Immer wieder im Gespräch - und zwar seit rund 15 Jahren - ist Baden-Württemberg, wo es zu einer ersten schwarz-grünen Koalition auf Länderebene kommen könnte. Im Südwesten der Republik halten die Grünen mit 7,7 Prozent bei den Landtagswahlen 2001 und 10,7 Prozent bei den Bundestagswahlen eine gefestigte Position. Da wundert es auch nicht, dass Ministerpräsident Günter Oettinger den schwarz-grünen Gedankenspielen bislang auch keine dezidierte Absage erteilt - wenn auch eher, um den Koalitionspartner FDP nicht übermütig werden zu lassen, wie man bei den Grünen unkt.
Die Grünen selbst wiesen in Oldenburg Koalitionsspekulationen in Baden-Württemberg zurück. Mehrere Redner aus dem Landesverband äußerten deutlich ihren Unmut darüber: Man solle sie damit in Ruhe lassen, dies schade für den bevorstehenden Wahlkampf eher.
Das Ergebnis der Bundesdelegiertenkonferenz lässt sich wohl am besten mit den Worten von Renate Künast zusammenfassen: "Die Tür", so formulierte es die neue Fraktionsvorsitzende, "ist offen." Aber "ob wir oder andere über die Schwelle gehen, werden wir zu einem anderen Zeitpunkt entscheiden." Und dann - so muss man wohl im Geiste hinzufügen - wird diese Frage im konkreten Fall sehr kontrovers diskutiert werden. In Oldenburg sind dafür allenfalls erste Sondierungsgespräche geführt worden - mit der eigenen Parteibasis.