Einleitung
Vor reichlich 50 Jahren, im Jahr 1955, war Deutschland ein ethnisch weitgehend homogenes Land: Der Anteil der hier lebenden Ausländer betrug rund ein Prozent. 1
Doch in eben diesem Jahr wurde zwischen Deutschland und Italien ein folgenreiches Abkommen - der erste Vertrag zur Anwerbung von "Gastarbeitern" - geschlossen. In den folgenden Jahren kamen 14 Millionen Arbeitsmigranten ins Land - nicht nur aus Italien, sondern auch aus der Türkei, aus Spanien, aus dem damaligen Jugoslawien und aus anderen Ländern. Bald folgten die Familienangehörigen der Arbeitsmigranten, Aussiedler, Flüchtlinge, Asylbewerber. Gemäß der offiziellen Statistiken beträgt der Anteil der "Ausländer" in Deutschland inzwischen rund neun Prozent der Bevölkerung. 2 Hinzu kommt, dass sich auch unter den "Inländern" immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund befinden. 3 Deutschland hat sich sich seit 1955 - was zunächst niemand erwartet und gewollt hatte - allmählich zu einem Einwanderungsland entwickelt.
Diese Entwicklung wurde anfangs von Politik wie Öffentlichkeit ignoriert. Das hat sich inzwischen gründlich geändert: Es gibt heute zahllose Untersuchungen, Kommissionen, Medienberichte, zahllose Institutionen, Gremien, Tagungen, die sich mit dem Thema "Migranten in Deutschland" befassen und dazu Informationen anbieten. Ob Arbeits- oder Wohnungsmarkt, Bildungsbereich, Einkommen, Gesundheit, Heiratsverhalten - Migrantinnen und Migranten sind längst zu einem vielbeschriebenen Wissenschaftsobjekt und Medienthema geworden.
Von der Beliebtheit der einfachen Bilder
Doch das Bild von "den" Ausländern, das auf vielen Ebenen transportiert wurde und wird, weist Vereinfachungen und Verzerrungen auf, auch charakteristische Auslassungen und Lücken. 4 In der krasseren Version der Medienberichte ist die Rede von Massen von Armen und fremdländisch "Anderen", die hereinströmen, die Einheimischen bedrängen, den Wohlstand bedrohen. 5
Aber auch in moderateren Darstellungen, die nicht von der Absicht der Dramatisierung gelenkt sind, wird gern das Exotische und Fremde betont. Besonders beliebt ist etwa dasBild der türkischen Frau, möglichst mit Kopftuch. Es gehört zum Grundrepertoire aller Diskussionen über Ausländerinnen, scheint zum Symbol für "die" Ausländerin schlechthin geworden zu sein. 6 In den Sozialwissenschaften wiederum spielen Migrantinnen und Migranten, obwohl sie zahlenmäßig inzwischen eine beachtliche Gruppe darstellen, in allgemeineren Darstellungen zur Sozialstruktur der Bevölkerung eine eher periphere Rolle. Nicht als Teil der Aufnahmegesellschaft werden sie hier verhandelt, sondern vorzugsweise als gesonderte Gruppe, indas Kästchen "Ausländerthema" sortiert, unter "Randgruppen" zusammen mit Behinderten und Wohnungslosen eingeordnet. 7 Darüber hinaus gibt es zahlreiche Spezialstudien, die sich mit dem Thema Migration befassen, doch sind diese vielfach stark praxisbezogen und problemorientiert. Von der Pädagogik bis zur Soziologie und Psychologie, überall bestimmt ein "Reigen der Problematisierer" 8 den Zuschnitt des Themas: Immer wieder geht es um das "Ausländerproblem" bzw. die "Integrationsproblematik". 9
Im Ergebnis ist das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild sehr schlicht und vereinfachend, auf ein Grundmuster weniger Stereotype bezogen. Was in die geschilderte Optik nicht passt, findet wenig Beachtung. Insbesondere gerät meist aus dem Blickfeld, dass die ausländische Bevölkerung in sich alles andere als homogen ist. Sie ist sehr differenziert und umfasst unterschiedlichste Gruppen. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung stehen die klassischen Arbeitsmigranten, die aus ärmeren Ländern nach Deutschland gekommen sind, und hier wiederum vor allem diejenigen, die am unteren Ende der sozialen Hierarchie bleiben. Über die daraus resultierenden Verzerrungen heißt es im Sechsten Familienbericht der Bundesregierung, der die Literaturgrundlage kritisch sichtet: Der öffentliche Diskurs über Migranten und ihre Familien sei durch "extreme Vereinfachungen geprägt". Viele Darstellungen folgten dem Grundmuster einer "Rhetorik, welche die Unterschiede akzentuiert, ihr Augenmerk auf das Ungewöhnliche und Exotische richtet". Damit erzeugten sie eine "Folklore des Halbwissens", die sich immer wieder fortschreibe und selbst bestätige. 10
Im Folgenden will ich an einem Fallbeispiel zeigen, wie diese Folklore des Halbwissens aussieht, wie sie sich ausbreitet und nicht zuletzt: welche politischen Folgen sie hat. Dazu wähle ich ein Thema, das im Frühjahr2005 die Aufmerksamkeit auf sich zog: das der "türkischen Bräute". 11 Gemeint sind Frauen aus der Türkei, die als Ehefrauen aufdem Weg des Familiennachzugs nach Deutschland kamen - oder genauer: hierher gebracht wurden, unfreiwillig und zwangsweise. Dieses Thema stand Ende der siebziger Jahre schon einmal im Blickfeld der Öffentlichkeit. Und es sorgt heute, ein gutes Vierteljahrhundert danach, erst recht wieder für Schlagzeilen und hitzige Debatten.
"Türkische Bräute" in den siebziger Jahren
Das herrschende Bild von der ausländischen Frau ist hierzulande vor allem ein Bild von der türkischen Frau: zum einen, weil die Türken die zahlenmäßig größte Zuwanderergruppe darstellen, zum anderen, weil sie in den Augen der Deutschen in besonderem Ausmaß Fremdheit repräsentieren. Was diese Fremdheit ausmacht, was so auffallend ist, hat Susanne von Paczensky vor knapp 30 Jahren anschaulich beschrieben. 12 Ihr Text bildet das Vorwort zu einem Buch über türkische Frauen, das 1978 in der populären Reihe "Frauen aktuell" des Rowohlt Verlags erschienen ist. 13 Weil von Paczeskys Beschreibung sich sehr eingängig liest, gleichzeitig alle klassischen "Zutaten" enthält, will ich ausgiebig daraus zitieren.
Anrührende Beschreibung
"In der Bundesrepublik und West-Berlin leben rund eine Million Türken; etwa ein Drittel davon sind Frauen. Sie wohnen mitten unter uns, durchaus nicht unsichtbar, im Gegenteil: durch Kopftuch und Blumenhose, durch Mimik und Verhalten deutlich sichtbar, augenfällig ausgesondert. Sie sind ausgesondert, das heißt, sie sind sonderbar ... Langsamer als all die anderen Zugewanderten aus südlichen Ländern lassen sie sich auf Sprache, Kleidung, Umgangsformen ihrer deutschen Nachbarn ein; zögernder noch als ihre Männer, ihre Söhne nehmen sie den Kontakt zur Umwelt auf. Wer mit türkischen Familien zu tun hat, ... der erlebt, dass die Begegnung nur mit den Männern stattfindet. Die Frauen mögen körperlich anwesend sein, sie bleiben sprachlose Kulisse. Oft kommt nicht einmal ein Blickkontakt zustande. Natürlich gibt es Ausnahmen, ... doch die sind selten. Die überwiegende Mehrzahl der Frauen, die bei uns Arbeit sucht, stammt vom Lande, aus den abgelegenen Dörfern Anatoliens, und diese Herkunft haftet ihnen deutlich an. Als unverdauliche Fremdkörper leben sie nun in unseren Städten ... Sie stehen vermummt beieinander, sprechen eine unverständliche Sprache, kochen unbekannte Speisen. Sie gehen demütig zwei Schritte hinter ihren Männern her, und selbst die eigenste Domäne der Frau, den Einkauf von Lebensmitteln oder Kleiderstoffen, überlassen sie ihren Männern oder Kindern." 14
Migrantinnen, wie Susanne von Paczensky sie darstellt, sind also nicht einfach unsichtbar, nein, umgekehrt: Sie sind auffallend, weil sie so unzugänglich, so undurchdringlich, so sprachlos erscheinen. Und sie sind vor allem eines: Sie sind unterdrückt. Das Buch, zu dem von Paczensky die Einleitung schrieb, trägt den bezeichnenden Titel "Die verkauften Bräute". 15 Was soll das heißen? Es heißt, so Susanne von Paczensky, dass viele der Frauen "weder lesen noch schreiben können, dass sie als halbe Kinder in die Ehe verkauft wurden, dass der Ehemann gegen den Brautpreis die unbedingte Unterwerfung seiner Frau erwarb - das heißt schließlich auch, dass die meisten Frauen gar nicht gefragt wurden, ob sie nach Deutschland auswandern wollten. Solche Entscheidungen werden ausschließlich im männlichen Familienrat gefällt. Als verkaufte Bräute kamen sie ohne ihr Zutun in unsere Städte, unsere Betriebe." 16
Beschreibungen dieser und ähnlicher Art enthalten eine für die damalige Zeit charakteristische Tonlage, besonders ausgeprägt in vielen der Studien aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die sich mit Ausländern im Allgemeinen und ausländischen Frauen im Besonderen befassten. Solche Arbeiten sind damals wie heute zwar meist von bester Absicht geleitet - sie sollen nicht nur Informationen vermitteln, sondern auch ein "Gefühl der Empörung" 17 auslösen -, aber sie basieren oft auf äußerst dürftigen Kenntnissen, die zu grob pauschalisierenden Aussagen verarbeitet werden. Ein Beispiel dafür ist der Titel "Die verkauften Bräute". Wie belegen die Autorinnen die darin mitschwingende Behauptung, die allermeisten der türkischen Frauen seien zwangsweise nach Deutschland gebracht worden? Kaum ernsthaft. Gegen Ende des Buchs verweisen sie auf einige wenige Statistiken aus einer anderen Studie und auf eine Tabelle; und schaut man genauer hin, so sind diese Zahlen kein Beleg dafür, dass die Mehrheit der Frauen gezwungenermaßen dem Ehemann nach Deutschland nachfolgte. 18
Opferperspektive und Überlegenheitsanspruch
Dabei ist zweifellos richtig, dass Migrantinnen oft in besonderer Weise Belastungen ausgesetzt sind, und entsprechend gerechtfertigt, ja notwendig ist es, den Blick darauf zu lenken. Dennoch sind aus heutiger Sicht die meisten der damaligen Texte, die sich der Migrantinnen und ihrer Nöte annehmen wollten, durch erhebliche Verzerrungen, Verengungen, Fehlannahmen gekennzeichnet. Wenn man ihre Grundlagen genauer betrachtet, stößt man - wie eben erwähnt - auf einige wenige, sehr dürftige und methodisch höchst fragwürdige Quellen, die so lange zitiert wurden, bis sie den Charakter anerkannter Tatsachen annahmen. 19 Auch wurde besonders häufig und gern aus der Praxis von Beratungsstellen berichtet. Dass entsprechende Berichte äußerst einseitig sind, ja selektiven Charakter tragen - weil sich ja nur diejenigen Migrantinnen an die Beratungsstellen wenden, die sich in schwierigen Notlagen befinden -, dieser Umstand schien lange Zeit weder die Autorinnen noch die Leserinnen zu stören. Und so konnte sich ungehindert die Botschaft verbreiten, das Leben der Migrantinnen insgesamt sei unglücklich und bemitleidenswert. 20
Gegen solche vereinfachenden Bilder wenden sich neuere Texte aus der Frauenforschung und Frauenbewegung. Dabei stehen vor allem zwei Punkte im Zentrum ihrer Kritik: zum einen die allgegenwärtige Opferperspektive, zum anderen der Überlegenheitsanspruch der deutschen Autorinnen.
Opferperspektive: Die erste und vielleicht offensichtlichste Schwierigkeit besteht darin, dass in Texten der beschriebenen Art Migrantinnen immer nur aus einem Blickwinkel gesehen werden: als passive Opfer - Opfer der deutschen Gesellschaft, Opfer der türkischen Männer, Opfer der kapitalistischen Wirtschaft. Nie dagegen treten Migrantinnen als aktiv Handelnde in Erscheinung, nie als Personen, die eigene Wünsche und Hoffnungen entwickeln, die selbst planen, Entscheidungen treffen, diese auch durchzusetzen versuchen - unter wie widrigen Umständen auch immer-, dabei eigene Strategien entwerfen, mit List, Zähigkeit, Durchsetzungsvermögen. Der deterministische Blick verweigert der "armen Ausländerfrau" jede eigene Regung, jede Individualität, jeden Anflug von Freiheit: Es scheint kaum vorstellbar, dass sie auch einmal lacht, liebt, Freude empfindet. Migrantinnen scheinen aus der Opferperspektive nur in der Lage zu sein, in der Monotonie ihres Unglücks zu leben und dieses Unglück ausharrend zu tragen. Die Reflexion, das Bewusstsein dagegen ist den deutschen Frauen vorbehalten. Ihr Motto heißt: Wir wissen, wie es dir geht. 21
Überlegenheitsanspruch: Ein derartig mitleidiger Blick hat immer auch etwas Herablassendes an sich, er kommt von oben. Und hier genau liegt das nächste Problem. Viele der einheimischen Frauen in Frauenbewegung, Sozialarbeit, Sozialwissenschaft haben Migrantinnen als eine Problemgruppe definiert, die der Betreuung und Richtungsweisung bedarf. Sie neigen dazu, sich den Migrantinnen gegenüber als überlegen zu fühlen und zu verhalten, und das manchmal stillschweigende, manchmal auch offen ausgesprochene Credo heißt: Wir wissen, was für dich gut ist. 22 Ein solches Verhalten ist charakteristisch für hierarchische Strukturen, für die wohlwollende Herablassung von Statushöheren gegenüber Statusniederen. Im Klischee gesprochen: "Die gut ausgebildete, sozial und sprachlich kompetente Deutsche kümmert sich um die ... ,defizitäre` Migrantin." 23
In dem Maß, in dem dies erkannt und benannt wurde, schien es nicht mehr möglich zu sein, im Rahmen seriöser Diskussionen ein grob pauschalisierendes Bild von der "armen unterdrückten Ausländerfrau" zu präsentieren. Die Zeit für genaueres Hinschauen, für genauere Argumente begann - so jedenfalls konnte man hoffen.
Türkische Bräute im Jahr 2005
Doch dann erschien 2005 das Buch "Die fremde Braut" von Necla Kelek. 24 Es weist Parallelen zu den "Verkauften Bräuten" der späten siebziger Jahre auf - nicht nur im Titel. Ein Merkmal des Buches von Andrea Baumgartner-Karabek und Gisela Landesberger ist, dass die beiden Autorinnen in ihre allgemeineren Aussagen zur Situation der türkischen Frauen immer wieder eigene Tagebuchberichte einflechten, Impressionen einer vierwöchigen Türkeireise, pittoreske Szenen des Dorfalltags, von der Feldarbeit bis zu den Liedern und Tänzen der Frauen. Das alles verleiht ihren Schilderungen eine Atmosphäre von Direktheit und Authentizität. Doch Necla Kelek - selbst türkischer Herkunft, in Istanbul geboren und die ersten Jahre dort aufgewachsen - liefert noch authentischere Einblicke in türkisches Leben: Große Teile des Buches bestehen aus der Schilderung ihrer Familiengeschichte. Dazu gehört die Unterdrückung der Mutter durch den unbarmherzigen Vater, deren heimliche Flüche detailreich wiedergegeben werden, und dazu gehört erst recht die ausführlich ausgemalte Hochzeit des Bruders, von der Trommelmusik bis zum silbernen Dolch, vom Einzug der Brautleute hoch zu Ross bis zum Hammelbraten am Spieß. Orient pur, der Leser, die Leserin dürfen sich dabeiwähnen.
Wenn schon Andrea Baumgartner-Karabak und Gisela Landesberger beim Publikum ein Gefühl der Empörung auslösen wollten, so gilt dies offenbar erst recht für Necla Kelek. Kämpferisch stellt sie sich auf die Seite der türkischen Frauen, genauer der vielen Frauen, die - so ihre Darstellung - in jungen Jahren zwangsverheiratet werden, und zwar mit einem türkischen Mann, der in Deutschland aufwuchs. Vor der Hochzeit, so die Autorin, haben sie keine Chance, den Bräutigam kennen zu lernen; und gleich nach der Hochzeit müssen sie ihm nachfolgen in das ferne Land Deutschland, wo sie dem Mann und seiner Familie zu Diensten sein müssen, ihm gewissermaßen ausgeliefert, wo sie unterdrückt und rechtlos sind. Kämpferisch rechnet Kelek ab: zum einen mit den Türken in Deutschland, die Frauenunterdrückung praktizieren oder zumindest durch ihr Stillschweigen dulden; zum anderen - und dies vor allem - mit den gutmeinenden, doch realitätsblinden Deutschen, die in all ihrer Multikulti-Romantik das Unrecht nicht wahrnehmen wollen, das in ihrem Land, in ihren Städten geschieht.
In diesem Sinne ist Necla Keleks Buch vor allem als "Anklage" zu lesen. Doch wenn man genauer hinschaut, bleibt die "Beweisführung" ziemlich verschwommen. Zwar wird vom Verlag und in späteren Berichten über das Buch vermerkt, die promovierte Soziologin habe eine eigene Untersuchung unter türkischen Frauen gemacht, mithin: ihre Aussagen seien wissenschaftlich fundiert. Aber im Buch fehlen solide und nachprüfbare Daten. Stattdessen benutzt die Autorin zentrale Begriffe äußerst schwammig, erklärt sie Ungleiches zu Gleichem: Die arrangierte Ehe etwa wird von ihr umstandslos mit der Zwangsheirat gleichgesetzt, als gäbe es nicht wesentliche Unterschiede zwischen beiden. Und worauf Kelek ihre harten Aussagen und Urteile stützt, bleibt völlig offen. Das Buch basiert auf persönlichen Beobachtungen, die Autorin schildert einige Gespräche mit türkischen Frauen - und aus dem Mosaik solcher Eindrücke schließt sie auf das, was in mehr oder minder ähnlicher Form überall in "den" türkischen Gemeinden und türkischen Familien in Deutschland geschieht. Das ist wissenschaftlich fragwürdig und damit fahrlässig - kommt aber bei Medien und Öffentlichkeit gut an.
Das Buch von Necla Kelek hat Karriere gemacht, ist in allen großen Medien besprochen worden, im Spiegel gar vom damaligen Innenminister Otto Schily persönlich. Die Autorin avancierte zur viel gefragten Person für Interviews, Lesungen, Diskussionsforen, für Talk-Shows und Tagungen, zur authentischen Gewährsfrau rund um das Rahmenthema "Die Unterdrückung der türkischen Frau". Ihr Buch erreichte in kürzester Zeit die Bestseller-Liste des Spiegel.
In einem hat die Autorin der "fremden Braut" zweifelsfrei recht: Jede Zwangsheirat der von ihr beschriebenen Art ist ein Unrecht, und zwar ein gewaltiges, und deshalb muss - nicht zuletzt von Seiten des deutschen Staates - alles getan werden, um solches Unrecht zu bestrafen und zukünftig zu verhindern. Und vielleicht hat die Autorin auch in einem weiteren Punkt Recht: Möglicherweise gibt es mehr Zwangsheiraten in Deutschland, als wir ahnen. Aber statt ihre Thesen empirisch zu unterfüttern, äußert Kelek einen Generalverdacht. Dieser wird nun - ohne Möglichkeit der Überprüfung - den türkischen Gemeinden einfach übergestülpt.
Erst recht hier, bei der Darstellung der türkischen Gemeinden, wird mit sehr groben Pinselstrichen gezeichnet. Necla Kelek beansprucht, mit ihren Schilderungen einen "Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" zu liefern (so der Untertitel des Buches). Was man da zu lesen bekommt, scheint mit den schlimmsten Angstphantasien fremdenfeindlicher Deutscher identisch zu sein: Es ist nicht nur zu lesen, dass Zwangsheirat unter türkischen Migranten "übliche Praxis" 25 sei und die nach Deutschland gebrachten Ehefrauen "wie Sklavinnen gehalten" 26 würden. Weit grundsätzlicher noch ist die Aussage Keleks, die Türken hätten sich "massenhaft in ihre Moscheen zurückgezogen und verteidigen ihre islamische Welt". Sie hätten sich "längst ihre eigene Parallel-Gesellschaft geschaffen", 27 dies natürlich auch "mithilfe der deutschen Errungenschaften von Sozialversicherung und Arbeitslosenunterstützung", 28 und derart freundlich subventioniert, so Kelek, "feiern sie ihren türkischen Nationalismus". 29 Besonders gefährlich sei ihre Religion: der Islam. Er kenne keine Toleranz im westlichen Sinn, nur "Respekt vor dem Stärkeren" und "Unterwerfung", 30 weshalb viele Muslime die deutschen Gesetze verachteten und sie nur benutzten, 31 um "ihren religiösen Einfluss zu erweitern und ihre reaktionäre Praxis fortzuschreiben". 32 Kurzum, die Multikulti-Träume sind nicht in Erfüllung gegangen. Die Wirklichkeit sieht anders aus, nämlich so: "Die Integration der Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken ist gescheitert." 33
Unter anderem aus solchen Passagen erklärt sich vielleicht der enorme Erfolg des Buches. Nicht zufällig lautet die Überschrift einer Rezension: "Wie der Islam die Städte erobert." 34 Keleks Buch ist nicht nur eine bunt erzählte Familiengeschichte, nicht nur eine Klageschrift wider das Unrecht an Frauen, es ist auch und nicht zuletzt eine Anklage gegen den Islam und gegen die in Deutschland lebenden Türken. Necla Kelek ist die Kronzeugin der Anklage. Sie liefert denen die Argumente, die immer schon wussten, wie "die" Türken sind, wie fremd, wie bedrohlich. Bedrohlich für ihre eigenen Frauen, und bedrohlich nicht minder für uns, die allzu gutgläubigen Deutschen. Die Türken kommen! Und wir müssen uns wehren, sonst werden wir überrannt! Das ist eine Botschaft, die viele gern hören - und besonders gern aus authentischem Mund, von einer Türkin persönlich.
Wie gesagt: Mit ihrem Kampf gegen Zwangsehen hat Kelek zweifellos recht. Aber dennoch hatte die Diskussion, die sie ausgelöst hat, äußerst problematische Züge. Die einfachen, die vereinfachenden Bilder haben gesiegt. Ob das dem Zusammenleben von Deutschen und Türken zuträglich ist, ob es die vielgeforderte, vielbeschworene Integration weiterbringt, mag bezweifelt werden. Schon die Autoren des Sechsten Familienberichts wussten: "Bereitwillig aufgenommen werden alle Berichte, die besonders krasse Beispiele der Unterdrückung und Misshandlung türkischer Frauen zum Inhalt haben - wenn sie ... sich als eklatantes Beispiel einer fremdkulturellen Lebensweise darstellen lassen. Dann lässt sich das ... Mitleid mit ,der` türkischen Frau mit einer Feindlichkeit gegenüber ,dem` türkischen Mann verbinden und als Legitimation ethnischer Distanzierung verwenden." 35
Ausblick
Bilder sind mehr als nur Bilder: Sie können eminent politische Folgen haben. Wer vorwiegend Darstellungen findet, wonach die Migrantinnen und Migranten sehr fremd, sehr exotisch, sehr anders erscheinen, wird umso eher ein Gefühl der Bedrohung entwickeln. "Die" sollen hereinkommen zu "uns"? Wenn solche Gruppen ihre Sitten, Gewohnheiten, Bräuche nach Deutschland hereintragen, werden dann nicht unsere eigenen Lebensformen allmählich verschwinden? Was wird dann aus dem, was uns selber vertraut ist, was uns Heimat bedeutet? Wer solche Bilder und Fragen im Kopf hat, fühlt sich bedrängt. Er wird den Parolen derjenigen glauben, die die deutsche Leitkultur in Gefahr sehen. Also wird er Zuwanderung und Zuwanderer ablehnen. Das war sicher kaum das Anliegen Necla Keleks. Aber es ist vielleicht die Absicht einiger derer, die das Buch so inbrünstig gelobt haben.
1 Vgl. Familien
ausländischer Herkunft in Deutschland. Sechster
Familienbericht. Herausgegeben vom Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, Berlin 2000, S.
33.
2 Vgl. Migrationsbericht. Bericht des
Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration im
Auftrag der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit dem
europäischen forum für migrationsstudien an der
Universiät Bamberg, Berlin 2004, S. 67.
3 So Aussiedler; Eingebürgerte
nicht-deutscher Herkunft; Kinder aus deutsch-ausländischen
Ehen; und Kinder ausländischer Eltern, die - wenn bestimmte
Voraussetzungen erfüllt sind - nach dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht mit der Geburt die deutsche
Staatsangehörigkeit erhalten.
4 Vgl. ausführlicher dazu Elisabeth
Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf
Migranten und Minderheiten, Frankfurt/M. 2004 8 .
5 Vgl. z.B. Franz Nuscheler,
Internationale Migration. Flucht und Asyl, Wiesbaden 2004(2), S. 21
ff.; Stefanie Schröder, Fremdheit als Konstrukt. Das Bild des
türkischen Gastarbeiters in ausgewählten Titelgeschichten
des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", Magisterarbeit,
Universität Erlangen 2000; Andreas Klärner, Aufstand der
Ressentiments. Einwanderungsdiskurs, völkischer Nationalismus
und die Kampagne der CDU/CSU gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft, Köln 2000, S. 51ff.
6 Vgl. Familien ausländischer
Herkunft (Anm. 1), S. 89.
7 Vgl. z.B. Bernhard Schäfers,
Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, Stuttgart 2004 8
, S. 88 ff.; Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland,
Opladen 2001 8 , S. 318ff.
8 Vgl. Martin Sökefeld, Das
Paradigma kultureller Differenz: Zur Forschung und Diskussion
über Migranten aus der Türkei in Deutschland, in: ders.
(Hrsg.), Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz. Neue
Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei, Bielefeld 2004,
S. 15.
9 Vgl. Familien ausländischer
Herkunft (Anm. 1), S. 7; M. Sökefeld (Anm. 8).
10 Vgl. Familien ausländischer
Herkunft, ebd., S. 5 und S. 75.
11 Die Argumente dieses Abschnitts
werden ausführlich entwickelt bei E. Beck-Gernsheim (Anm. 4),
S. 52ff.
12 Vgl. Susanne von Paczensky, Vorwort,
in: Andrea Baumgartner-Karabak/Gisela Landesberger, Die verkauften
Bräute. Türkische Frauen zwischen Kreuzberg und
Anatolien, Reinbek 1978, S. 7 - 9.
13 Vgl. A. Baumgartner-Karabak/G.
Landesberger (Anm. 12). Die Herausgeberin der Reihe war Susanne von
Paczensky, das Buch erreichte neun Auflagen mit einer Gesamtauflage
von 45 000 Exemplaren (Auskunft des Rowohlt Verlages).
14 S. v. Paczensky (Anm. 12), S.
7.
15 A. Baumgartner-Karabak/G.
Landesberger (Anm. 12).
16 S. v. Paczensky (Anm. 12), S.
9.
17 Ebd.
18 Vgl. A. Baumgartner-Karabak/G.
Landesberger (Anm. 12), S. 72; siehe zu dieser Kritik auch Yolanda
Broyles-Gonzáles, Türkische Frauen in der
Bundesrepublik Deutschland. Die Macht der Repräsentation, in:
Zeitschrift für Türkeistudien, 3 (1990) 1, S. 107 - 134,
hier S. 114.
19 Vgl. z.B. die Kritik von Y.
Broyles-Gonzáles, ebd., S. 111ff.
20 Vgl. Berrin Özlem Otyakmaz, Auf
allen Stühlen. Das Selbstverständnis junger
türkischer Migrantinnen in Deutschland, Köln 1995, S.
14.
21 Zu dieser Kritik vgl. z.B. Martina
Schöttes/Annette Treibe, Frauen - Flucht - Migration, in:
Ludger Pries (Hrsg.), Transnationale Migration. Soziale Welt,
Sonderband 12, Baden-Baden 1997, S. 85 - 117; hier S. 110.
22 Vgl. ebd. und Y.
Broyles-Gonzáles (Anm. 18).
23 M. Schöttes/A. Treibel (Anm.
21), S. 111.
24 Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein
Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland,
Köln 2005.
25 Ebd., S. 255.
26 Ebd., S. 20.
27 Ebd., S. 258.
28 Ebd.
29 Ebd., S. 263.
30 Ebd., S. 236.
31 Ebd., S. 265.
32 Ebd.
33 Ebd., S. 260.
34 So die Rezension von Hans-Peter
Raddatz in: Die Welt vom 12. Februar 2005. Und diese
Überschrift ist durchaus nicht zufällig gewählt,
sondern kann sich direkt auf eine Passage des Buches beziehen. Da
schildert Kelek zunächst die türkische Parallelwelt, die
sich nach ihrer Darstellung in deutschen Städten ausbreitet;
und dann zitiert sie ihren kleinen Sohn, der nach einem Besuch in
dieser Parallelwelt die Frage gestellt habe: "Mama, wann haben die
Türken diese Stadt erobert?" (S. 213).
35 Familien ausländischer Herkunft
(Anm. 1), S. 89.