Um in die sozialistische Seele der Zuckerinsel zu blicken, muss man auf Kuba nicht weit fahren: Nur einige Kilometer vom Stadtzentrum Havannas entfernt, dort wo die historischen Kolonialgebäude aufhören und Plattenbausiedlungen und zerfallende Hütten das Stadtbild prägen. Hier leben die ganz normalen Kubaner. Für sie ist der Sozialismus allerdings eher ein Alp- denn ein Wunschtraum: "Allein um zur Arbeit zu kommen, gehe ich morgens und nachmittags rund eine Stunde zu Fuß", erzählt die Grundschullehrerin Maria. "Und das ganze für einen Hungerlohn von 220 kubanischen Pesos im Monat." Das sind umgerechnet rund 6,50 Euro. "Aber von dem, was der Staat mir für meine Arbeit zahlt, kann ich nicht leben", sagt die 54-jährige Lehrerin. Maria arbeitet daher nicht wegen des Gehaltes in der rund fünf Kilometer entfernten Schule, sondern weil dort Mittags gekocht wird. "Das Essen ist ungenießbar", sagt sie, "aber mit dem, was davon übrig bleibt, füttern wir unsere Hausschweine." Wenn Maria eines der Tiere schlachtet, bekommt sie Fleisch und genug Dollar, um kaufen zu können, was der kubanische Staat der Bevölkerung nicht geben kann. Und das ist vieles. "Eigentlich steht uns jeden Monat ein halbes Stück Körperseife und ein halbes Stück Seife zum Wäsche waschen zu", erklärt Marias Freundin. "Doch es kann sein, dass wir monatelang gar keine Seife bekommen. Und so ist es mit allem."
Theoretisch bedeutet Sozialismus, dass jeder Mensch das bekommen soll, was er braucht und leisten muss, was er kann. Nicht mehr und nicht weniger. Praktisch leben die Kubaner jedoch in einer Mangelwirtschaft. Einen Monat lang fehlt der Reis, im nächsten die Kartoffeln, das Toilettenpapier oder Zucker. Dass die Kubaner trotzdem überleben, hängt häufig damit zusammen, dass die meisten Großfamilien irgend jemanden aus ihrer Mitte haben, der im Ausland lebt und regelmäßig Geld überweist. Ansonsten gilt es zu improvisieren. Um ein Telefon anzuschließen, benutzen viele zum Beispiel ein einfaches Kabel. Haare waschen kann man auch mit Schmierseife. Und statt Klopapier dient eine in Stücke geschnittene Zeitung.
Auf diese Weise, das heißt mit viel Eigeninitiative und Kreativität, hat Maria beispielsweise auch ihr Haus hergerichtet. Als sie das einstöckige Gebäude am Rande Havannas zugeteilt bekam, sah es aus, wie ein Rohbau. Von außen sah man die Ziegel. In manchen Räumen fehlte eine halbe Wand, in anderen nur der Fußboden. "Damals, als wir das Haus renovieren mussten, haben wir bei der Verwaltung einige Säcke Zement bestellt. Darauf warten wir noch heute. Aber unser Haus haben wir trotzdem fertig gemacht - wir haben Freunde, die im Zementwerk arbeiten."
Weil der Staat seinen Bürgern nicht das zuteilen kann, was sie als nötig empfinden, haben umgekehrt viele keine Skrupel, sich selbst zu nehmen, was sie brauchen - der staatliche Arbeitgeber ist dabei eines der leichtesten Opfer. Wer in der Zementfabrik arbeitet, "organisiert" für Freunde und Nachbarn Zement. Wer bei einer Maschinenfabrik beschäftigt ist, Schrauben, Werkzeug, Ersatzteile oder Draht. Manch ein Malermeister oder Elektriker geht morgens erst beim Arbeitgeber seine Zeitkarte abstempeln, um dann für Stunden auf einer privaten Baustelle zu verschwinden, wo er schwarz kassiert. Ein kubanischer Arbeitnehmer verbringt nur ein Bruchteil seiner Arbeitszeit mit dem, wofür ihn der Staat bezahlt. Den Rest des Tages nimmt das Organisieren von Waren und Dienstleistungen in Anspruch. All das gehört zum täglichen Überlebenskampf im Sozialismus. Nur sehen soll dies niemand, schon gar nicht die Touristen. "Bei uns in der Schule hat uns der Direktor verboten, mit Ausländern zu sprechen. Jeder, der einem Fremden etwas erzählt, verliert seine Stelle."
Der Sozialismus unterscheidet Kuba von seinen karibischen Nachbarinseln. Doch die wenigsten Touristen bekommen seine Schattenseiten zu Gesicht. Im Gegenteil: Die Regierung hat es sogar geschafft, die Staatsideologie als exotische Attraktion zu vermarkten. "Ich finde es interessant, zu sehen, dass man doch noch etwas gegen den Kapitalismus machen kann", erzählt Danilo, ein Philosophiestudent aus Italien, der schon zum zweiten Mal durch Kuba reist. Diesmal ist er im Westen der Insel, unter anderem in Vinales. Der Ort liegt rund 150 Kilometer westlich von Havanna und ist ein regelrechtes Vorzeigestädtchen. So sitzen die dunkelhäutigen Tabakpflanzer nach getaner Arbeit im gemeinsamen Kulturhaus, trinken Zuckerrohrschnaps und spielen Karten. Die Frauen genießen den Abend in einer Hängematte oder im Schaukelstuhl auf der Veranda ihres frisch gestrichenen Häuschens. Ihre Kinder toben währenddessen auf der Straße. Alles strahlt Ruhe und Friedlichkeit aus. "Wenn man sieht, wie arm die Menschen in Haiti oder auf Jamaika sind, und wie viel Gewalt es deswegen dort gibt, kann man Castro nur gratulieren", sagt Danilo. "Den Menschen hier geht es zwar vielleicht nicht so gut wie uns, aber immerhin muss hier niemand Hunger leiden."
Vinales liegt auf dem Land, eingebettet in eine großartige Landschaft, mitten im Anbaugebiet der Tabakpflanze. Das könnte erklären, warum es den Menschen hier besser zu gehen scheint, als in der Großstadt Havanna. Doch die Beschaulichkeit wirkt zu demonstrativ, die einstöckigen Häuser des denkmalgeschützten Ortes und ihre vorgebauten Säulenveranden zu pastellfarben, der Platz mit der Kirche und das Denkmal für Jose Marti kulissenartig. Es sind vor allem die Touristen, die die Menschen hier ernähren, denn Vinales ist eines der beliebtesten Reiseziele Kubas. Viele in der Region leben direkt oder indirekt von den Einnahmen aus dem Fremdenverkehr. Selbst die Tabakplantagen und -fabriken würden ohne die Touristen, die den Mythos der kubanischen Zigarre weiter verbreiten, heute wohl nur noch für einen begrenzten Markt produzieren.
Zwar hat Kuba in der Tat auch die viel gerühmten sozialistischen Errungenschaften vorzuweisen. So besitzt die Insel mit vier Prozent die geringste Analphabetenrate des amerikanischen Kontinents, und auch im Gesundheitswesen sind die Erfolge beachtlich. Die kubanische Kindersterblichkeitsrate ist die niedrigste der Welt. Um Medikamente und Impfstoffe nicht für viel Geld aus dem Ausland importieren müssen, hat Castro eine eigene Pharma- und Biotechnologieindustrie gegründet. Kubanische Forscher haben einen eigenen Hepatitis A und B-Impfstoff entwickelt und arbeiten derzeit an der Hepatitis C-Vorbeugung, an HIV- und Krebswirkstoffen. Darüber hinaus stehen pro 1.000 Einwohner rund 170 Ärzte zur Verfügung. Das sind rund doppelt so viele wie in Deutschland. Doch all das hat der kubanische Sozialismus nicht ohne Geld von außen erwirtschaften können.
Bis zum Ende der 80er-Jahre war es die Sowjetunion, die die Karibikinsel mit hohen Subventionszahlungen unterstützte. Darüber hinaus mussten sämtliche sozialistische Bruderstaaten kubanische Produkte kaufen, auch wenn sie, wie zum Beispiel der Zucker, teurer waren als vergleichbare Waren aus nichtsozialistischen Staaten. Alleine konnte die schlecht organisierte und auf Monokultur ausgelegte Wirtschaft nicht überleben. Doch nach der Wende in Osteuropa fielen die regelmäßigen Finanzspritzen weg. Kuba stürzte in eine wirtschaftliche Krise. Die Versorgungslage wurde katastrophal. Es gab kein Benzin, nicht genug Strom und nicht genug zu essen. Die staatlichen Läden standen oft monatelang leer. Die Angestellten verwalteten nichts als den Mangel.
In dieser Situation begann Fidel Castro, das Land für ausländische Investoren zu öffnen. Getreu dem Motto "Was stört mich der Kapitalismus, so lange er aus dem Ausland kommt und unser Gesellschaftssystem rettet" erlaubte er es westlichen Unternehmen Anfang der 90er-Jahre, Jointventures mit staatlichen kubanischen Firmen einzugehen, um so das Know-how und die Devisen für den dringend benötigten wirtschaftlichen Wandel zu bekommen. Zusätzlich gelang es ihm, die Besonderheiten der Insel, wie zum Beispiel den Mythos von Tabak, Zigarren, Rum und karibischer Musik, geschickt zu vermarkten. Selbst die kubanischen Religionen setzte er ein, um eine verlockende Aura von Unabhängigkeit und Widerstand zu kreieren. Die Maßnahme hatte Erfolg. Insgesamt wurden in den letzten 15 Jahren rund 400 Jointventure-Firmen gegründet, viele davon im Tourismus.
Der Sektor ist neben dem Export von Tabak und Zucker und den Überweisungen der Auslandskubaner an ihre Familien mittlerweile eine der tragenden Säulen der kubanischen Wirtschaft. Tausende Kubaner arbeiten als Kellner, Koch, Zimmermädchen, Gepäckträger oder Reiseführer und ernähren so ganze Großfamilien. Offiziell verdienen sie zwar genauso viel wie alle anderen Arbeitnehmer, also je nach Position umgerechnet zwischen 5 und 20 Euro im Monat. Unter der Hand, beispielsweise in Form von Trinkgeldern, bekommen sie jedoch ein Vielfaches mehr. Und auch der Staat selber profitiert von den Fremdem über alle Maßen. Denn obwohl die Löhne und Einkaufspreise auf Kuba nur ein Bruchteil von denen in Europa sind, kosten die Übernachtung, ein Kaffee, die Zigarre oder eine Taxifahrt den Fremden genauso viel wie in den westlichen Metropolen.
Der Staat legt die Preise fest und finanziert seinen Regierungsapparat aus dem unverhältnismäßig hohen Gewinn. Abgeschreckt hat das die Besucher bisher allerdings noch nicht. Rund 1,7 Millionen Menschen besuchen jedes Jahr die sozialistische Insel. Allein aus Deutschland kommen rund 220.000 Touristen. Aus Amerika sind es trotz der von der US-Regierung verhängten Wirtschaftsblockade immer noch 180.000, und es sollen noch mehr werden. Wenn die Sanktionen aufgehoben werden, müsse man, so die kubanischen Behörden, mit einem Ansturm von etwa fünf Millionen amerikanischer Urlauber rechnen.
Der Wirtschaftszweig, der dem System in den letzten Jahren geholfen hat zu überleben, stößt es mittlerweile jedoch zunehmend an seine Grenzen. Durch den Tourismus sind auf Kuba regelrechte Parallelwelten entstanden. Es gibt das abgeschottete Leben in den Vier- und Fünf-Sterne-Ressorthotels wie in Varadero, wo die Angestellten den Urlaubern das leichte karibisches Lebensgefühl präsentieren und wo es keinen Mangel und eigentlich auch keinen Sozialismus gibt. Selbst wenn die einheimische Bevölkerung schon seit Monaten keine Seife oder keinen Käse mehr zugeteilt bekommen hat, gibt es all das in den Hotels im Überfluss. Der Alltag der meisten Kubaner ist dagegen vom Überlebenskampf bestimmt. In perfider Weise hängt beides sogar indirekt zusammen. Denn egal ob es um Lebensmittel, Haushaltswaren, Hygieneartikel oder Zement geht - die staatlichen Behörden kümmern sich bei der Verteilung zuerst um die Touristen und dann um die eigene Bevölkerung. Schließlich sollen die gut zahlenden Gäste wiederkehren.
So kommt es, dass auch die Kubaner immer weniger an den Sozialismus glauben und ihrerseits dazu beitragen, dass sich das System nicht unbegrenzt durchsetzen lässt. "Auch bei uns an der Schule gibt es kaum noch gut ausgebildete Bewerber", erzählt die Lehrerin Maria. "Die meisten jungen Leute versuchen im Tourismus zu arbeiten, zum Beispiel als Guide. Egal ob sie studiert haben oder nicht, und selbst wenn sie sich dafür regelrecht anbiedern müssen." In den kleinen Schulen auf dem Land ist die Situation besonders schlimm. Weil es dort weniger Urlauber gibt als in der Stadt, haben die Lehrer weniger Möglichkeiten, sich mit Nebengeschäften einige Dollar dazu zu verdienen. Um dem Lehrermangel zu begegnen, stellt der Staat seit neuestem sogar noch nicht fertig ausgebildete Studenten als Lehrer ein. Doch auch das sind Informationen, die der kubanische Staat den Touristen nicht gerne weitergibt.