Einführungen in wissenschaftliche Disziplinen wie die Erziehungswissenschaft leben für gewöhnlich mit eigenen Risiken, sind doch deren grundlegende Begriffe selten eindeutig bestimmt. Und oft sind die Kontroversen darüber nicht geschlichtet, welches pädagogische Wissen zum grundständigen Kanon der Disziplin zu rechnen ist. Das muss jemand, der eine Einführung in die Erziehungswissenschaft schreibt ebenso im Auge behalten wie seine potentiellen Leser, nämlich die Studierenden.
Beides hat Hans Brügelmann, Professor an der Universität Siegen und ein national anerkannter Grundschulexperte, getan. Deshalb ist ihm eine etwas andere Einführung in die Erziehungswissenschaft gelungen, die ihre Aufmerksamkeit an die Frage heftet, welche Bedeutung die Ergebnisse und Befunde der Erziehungswissenschaft für den pädagogischen Alltag haben. Der Autor plädiert für eine Schule, "die Selbständigkeit nicht nur als Ziel, sondern auch als zentrale Bedingung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen proklamiert".
Was das Buch zu einer empfehlenswerten und lehrreichen Lektüre werden lässt, ist nicht allein die Tatsache, dass sein Autor einen gut lesbaren, zwar langen, aber nie langatmigen Text verfasst hat, sondern dass er die Leser auch an dem biographisch und milieuspezifisch geprägten Nährboden teilhaben lässt, auf dem er pädagogische Fragen erziehungswissenschaftlich bearbeitet - es ist gleichsam die Entzauberung des "Mythos Wissenschaft" und eine Absage an die Fiktion, man könne Humanwissenschaften durch methodische Kontrolle objektivieren.
Insofern ist es ein persönliches Buch, auch eine Bilanz nach mehr als 30 Jahren Tätigkeit im Wissenschaftsbetrieb, weil er die Grundmotive seiner eigenen Arbeit schonungslos offen legt. Das ist begrüßenswert, denn für gewöhnlich verschleiern Erziehungswissenschaftler - absichtlich oder unbewusst - die biographischen Erziehungserfahrungen ihrer Theoriebildung.
Brügelmann hat seine Einführung in elf größere Kapitel gegliedert. Sie sind nicht systematisch aufeinander bezogen, so dass der Leser beliebig in die Lektüre einsteigen kann. Allerdings empfiehlt der Rezensent, mit der persönlichen Einladung des Autors zu beginnen, die unter der Maxime steht: "Jeder Forscher ist ein Forscher seiner selbst" - eine Formulierung, die auf Marcel Proust ("Jeder Leser ist ein Leser seiner selbst") verweist.
Brügelmanns Panorama ist zu breit und facettenreich, um im Einzelnen vorgestellt und bewertet zu werden. Natürlich reflektiert er Erziehung, Unterricht, Schule und die Rechte von Kindern und Jugendlichen und natürlich auch das Verhältnis von Politik und Pädagogik. Er stellt Fragen, etwa jene, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen, ob die Schule eine Chance hat neben Familie, Freunden und Medien oder was die Maßstäbe für guten Unterricht und eine erfolgreiche Erziehung sind.
Der Leser wird auch an neuere Befunde der Neuropsychologie herangeführt und auf das alte Problem der Chancengleichheit verwiesen. Das gewinnt vor dem Hintergrund der neuesten PISA-Studie an Aktualität. Nicht ohne List hat Brügelmann sein letztes Kapitel als Vademecum für Leserinnen und Leser empirischer Studien konzipiert. Denn er mobilisiert Skepsis. Es enthält Argumente gegen vorschnelle statistische Vereinfachungen in der öffentlichen Diskussion.
Es ist eine Einführung in das Thema "Wie man mit Statistiken lügen kann". Amüsant zu lesen ist das nicht, aber lehrreich und profund. Brügelmann hat den Kapiteln Karikaturen von Marie Marcks vorangestellt, eine originelle Idee, welche die Aussagekraft seiner Texte nachdrücklich unterstreicht. Gleichzeitig baut er eine Warnung ein: Sein Buch soll Wissen anbieten, Schule besser zu verstehen. Aber pädagogische Forschung kann keine einfachen Handlungsrezepte bieten; soziales Handeln ist immer risikant.
Kurzum als Fazit: Es handelt sich um ein Buch, das der Rezensent mit großer Freude, mit Gewinn und Vergnügen gelesen hat und dem er viele kritische Leser wünscht. Ihre Einwände zu formulieren, dazu lädt der Autor sie zu einschlägigen Kommentaren auf seiner Homepage ein.
Hans Brügelmann
Schule verstehen und gestalten.
Perspektiven der Forschung auf Probleme von Erziehung und Unterricht.
Libelle Verlag, Konstanz 2005; 400 S., 24, - Euro