Gerade so verhält es sich auch mit den deutschen Hochschulen zu Beginn des Jahres 2006. Elend und Glanz liegen dicht beieinander. Unzumutbare Studien-, Lehr- und Forschungsbedingungen sind hier ebenso anzutreffen wie paradiesische. Zwischen baufälligen Instituten und wahren Hightech-Tempeln der Wissenschaft liegen manchmal nur wenige Kilometer. Unbedarfte Professoren und akademische Alleskönner lehren oft Tür an Tür, unbegabte und hochtalentierte Studenten sitzen im Hörsaal Knie an Knie, mittelmäßige Forschung und solche von Weltruf finden mitunter am selben Lehrstuhl statt. Die Reihe ließe sich fortsetzen, bei den Rektoren und Präsidenten der Hochschulen ebenso wie bei den Bildungspolitikern in den Parteien, in den Ländern und im Bund.
Was von beidem überwiegt, das Elend oder der Glanz, lässt sich mitunter nur schwer ausmachen. Derzeit zumindest scheint es an den Universitäten und Fachhochschulen durchaus stärker zu glänzen als in vielen Jahren zuvor. Die Aufholjagd auf dem Bildungsmarkt hat begonnen, das deutsche Hochschul- und Wissenschaftssystem hat erkannt, dass es konkurrenzfähiger werden muss. Und erste Erfolge sind, im Innern wie nach außen, zu erkennen. Doch der Glanz ist trügerisch. Das alte Elend wirkt nach. Und schon droht neues.
Das Elend: Das Elend der deutschen Hochschulen ist zunächst das Resultat von beinahe drei Jahrzehnten verfehlter Hochschulpolitik, vor allem in den Ländern, aber auch im Bund. Die deutschen Hochschulen sind 2006 noch immer vor allem das, was sie 1996 und 1986 und im Grunde auch 1976 schon waren: überfüllt und unterfinanziert. In beidem zeigt sich die Ignoranz der Politik, die in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Hochschulen öffnete, sie dann aber mit den Folgen allein ließ. Der Versuch, den immer höheren Studentenberg zu "untertunneln" - sprich: mangels Geld oder guten Willens die Unis die Überlast selber tragen zu lassen - ist grandios gescheitert. Die Zahl der Studenten hat sich seit 1977 auf knapp zwei Millionen fast verdoppelt. Die Zahl der "ausfinanzierten Studienplätze", für die genügend Professoren, Gebäude und Geräte vorhanden sind, stieg dagegen um nicht einmal 15 Prozent.
Überall fehlt es an Geld. Wie viel, weiß niemand genau. "Um nur dieselben Lehr- und Forschungsbedingungen wie Mitte der 70er-Jahre zu gewährleisten, müssten sofort 6 Milliarden Mark in die Hochschulen fließen", errechnete die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) schon vor einem Jahrzehnt. Inzwischen dürfte das Loch noch weitaus größer sein.
Der Glanz: Dass es unter diesen Umständen an den hiesigen Hochschulen überhaupt noch glänzt - ja, derzeit sogar stärker als ehedem -, das ist schon an sich eine Leistung. "Wir sind besser als wir jammern", sagt denn auch Detlef Müller-Böling, als Leiter des von der Bertelsmann-Stiftung und der Rektorenkonferenz getragenen Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), einer der wesentlichen Ideengeber für die Hochschulreform. "Ungemein viel ist in Bewegung geraten", konstatiert Müller-Böling - und weiß sich mit dem bis Ende 2005 amtierenden HRK-Präsidenten Peter Gaehtgens einig in dem Urteil: "Wenn andere Teile von Staat und Gesellschaft genauso reformfreudig wären wie die Hochschulen, gäbe es in diesem Land das Wort vom Reformstau nicht."
Der Glanz kam zunächst von innen. Mitte der 90er-Jahre waren es ideenreiche und mutige Rektoren und Professoren in Heidelberg, Hamburg und anderswo, die erstmals Haushaltsgelder nach Leistung verteilten, modernere Leitungsstrukturen erprobten und neue Geldquellen, etwa in der Wirtschaft, erschlossen. Zur selben Zeit begannen Politiker, zunächst in einigen Ländern, später auch im Bund, die Hochschulgesetze zu entschlacken und den bürokratischen Würgegriff zu lockern.
"Der Staat hat sich weit zurückgezogen", resümiert CHE-Mann Müller-Böling: "Er ist vom Vater Staat zum Partner Staat geworden." Für die Hochschulen bedeutet das "mehr Freiheit und zugleich erheblich mehr Verantwortung", sagt Johann-Dietrich Wörner, der seit Anfang 2005 als "erster voll-autonomer deutscher Uni-Präsident" in Darmstadt von der Berufung neuer Professoren über die Verwendung des Etats bis hin zur Vermietung von Hörsälen alles in eigener Regie entscheiden kann.
Selbst die Gretchenfrage der deutschen Hochschulpolitik ist seit neuestem beantwortet: die nach den Studiengebühren. Der zunächst von einigen, in wenigen Jahren vermutlich aber von allen Ländern gewagte Schritt, die Hochschüler an den Kosten ihrer akademischen Ausbildung zu beteiligen, mag unter dem Gesichtspunkt von Bildungs- und sozialer Gerechtigkeit zu Recht weiter umstritten sein - hochschulpolitisch ist er ein überdeutliches Signal für die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.
Stärker noch als von diesen Neuerungen im Innern rührt der Glanz aber vielleicht von zwei Initiativen, mit denen die deutschen Hochschulen nach außen und im weltweiten Wettbewerb bestehen wollen. Mit den international kompatiblen gestuften Bachelor- und Master-Studiengängen und -abschlüssen, die immer mehr von ihnen einführen, wollen sie Teil des gemeinsamen "europäischen Hochschulraums" werden - und teilhaben an dem Traum vom "Studium ohne Grenzen". Und mit der 2005 von Bund und Ländern gemeinsam gestarteten "Exzellenzinitiative", besser bekannt als Programm zur Förderung von "Elite-Unis", soll die Spitzenforschung an den Universitäten wieder dorthin gelangen, wo sie einst stand: in die weltweite Spitzenklasse. Das Interesse daran ist groß. Um die stolze Fördersumme von 1,9 Milliarden Euro bewerben sich die Hochschulen mit mehr als 300 neuen Projekten - und auch daraus dürfte in den kommenden Jahren manch neuer Glanz erwachsen.
Selbst bei diesen glänzenden Neuerungen aber war und ist das Elend nicht weit. Beispiel eins: Die Exzellenzinitiative war zwischen Bund und Ländern heftig umstritten und wurde von letzteren im Streit um die Föderalismusreform und die Machtverteilung in der Bildungspolitik ein Jahr lang blockiert - ein Jahr, das den Forschern an den Hochschulen im weltweiten Wettbewerb so verloren ging. Beispiel zwei: Die Bachelor- und Master-Studiengänge werden von manchen Fakultäten, Fachverbänden und auch Arbeitgebern vehement abgelehnt - nicht vor allem aus sachlichen, sondern aus ideologischen Gründen. Und Beispiel drei: Bei den Studiengebühren machen sich die Hochschulpolitiker vollends unglaubwürdig, weil sie es nicht fertig bringen, die Gebühren durch Stipendien so sozialverträglich abzufedern, damit sie niemandem vom Studium abhalten.
Und während so der eine oder andere Glanz bereits wieder verblasst, zieht bereits neues Elend herauf. Die deutschen Hochschulen stehen vor einem wahren Massenansturm. Nach einer aktuellen Prognose der Kultusminister dürften sich 2014, also schon in wenigen Jahren, bis zu 2,7 Millionen Studenten in den Hörsälen, Instituten, Bibliotheken und Mensen drängen, mehr als 700.000 mehr als jetzt. Wie sie diesen neuen gewaltigen Studentenberg bewältigen sollen, der durch die demografische Entwicklung und die Schulzeitverkürzungen in den Ländern auf sie zukommt, wissen die Hochschulen nicht. Ihre Rektoren forderten unlängst einen "nationalen Hochschulpakt", mit dem die Länder und der Bund sofort mehrere Milliarden Euro bereitstellen sollen. Die Forderung ist berechtigt, doch ebenso hilflos - und vor allem unrealistisch.
Selbst finanzstarke Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg können nicht annähernd so viel Geld in die Hochschulen pumpen, wie notwendig ist. Und auch der Bund, der seine Hochschulmittel unter der rot-grünen Koalition immerhin um fast ein Drittel erhöht hatte, kann nicht mehr. Oder vielmehr: Er darf nicht mehr, selbst wenn er es noch könnte. Denn Ende 2005 hat die neue Bundesregierung als eines ihrer ersten Projekte endlich die Föderalismusreform auf den Weg gebracht - und die gibt den Ländern in der Hochschulpolitik praktisch die alleinige Macht. Vom Hochschulbau über die Professorenbesoldung bis hin zu finanziellen Hilfen in Form von Sonderprogrammen sollen sie künftig alles in eigener Regie regeln können.
Die Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen laufen dagegen Sturm, sie befürchten dann auch in der Hochschulpolitik jene "Kleinstaaterei", die in der Schulpolitik jahrzehntelang herrschte und geradewegs ins "Pisa-Debakel" führte. Und auch die neue Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), die zuvor Kultusministerin in Baden-Württemberg war, will nicht auf alle Mitsprachemöglichkeiten verzichten. "Der Bund wird nicht bloßer Zuschauer sein", kündigte sie bei ihrem Amtsantritt an. Doch angesichts der Pläne der Föderalismusreformer dürfte das ein frommer Wunsch sein.
So könnte bei allem neuen und oft auch unvermuteten Glanz an den deutschen Hochschulen am Ende das Elend wieder obsiegen. Und damit wiederum könnte auch eine zweite Feststellung von Mario Losano hierzulande Wirklichkeit werden. Losano entwarf seinerzeit nicht nur das Bild der Universität von Bronxford, er stellte auch fest: Diese Universität ist nur einen winzigen Schritt vom totalen Kollaps entfernt.
Der Autor arbeitet als Bildungs- und Wissenschaftskorrespondent der
"Süddeutschen Zeitung" in Bonn.