Das Parlament: Herr Gross, angesichts der Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen vom 6. November kann von demokratischen Fortschritten in Aserbaidschan keine Rede sein. Welche Bilanz ziehen Sie nach fünf Jahren Mitgliedschaft des Landes im Europarat?
Andreas Gross: Wo wirklich eine echte Bereitschaft besteht, sich auf neue Entwicklungen einzulassen, lässt sich auch in einem garstigen Umfeld über Jahre etwas bewirken. Zumal in einem Land, das seit über 100 Jahren über viel Öl verfügt, das bisher aber nur wenigen nützlich war. Deshalb wären wir schon dankbar, wenigstens einige Fortschritte in der Demokratisierung der Lebensverhältnisse in Aserbaidschan feststellen zu können. Ich bin überzeugt, dass heute viele Menschen in Aserbaidschan wissen, was Demokratie ist und was die Respektierung der Menschenrechte bedeuten würde; doch jene, die in diesem Land über die politische und wirtschaftliche Macht verfügen, haben aus diesem Wissen viel zu wenig gemacht. Vor allem waren sie viel zu wenig bereit, ihre Macht zu teilen. Deshalb leben viele immer noch an der Grenze der Armut. Gewiss sind dank des Europarates hunderte von politischen Gefangenen endlich freigelassen geworden. Aber es gibt immer wieder neue politische Gefangene, denen ihr Anspruch auf Beurteilung durch eine unabhängige Justiz vorenthalten wird.
Das Parlament: Bereuen Sie heute, sich 2001 für die Aufnahme des Landes in den Europarat engagiert zu haben?
Andreas Gross: Nein, entscheidend war, dass wir es versucht haben - gerade in Aserbai-dschan, das weltpolitisch an einer Kreuzung von europäischen, iranischen, russischen und asiatisch-autokratischen Einflüssen liegt. Man darf in Europa nicht vergessen, dass in der Hauptstadt Baku beispielsweise China durchaus auch als mögliche Option für einen wirtschaftlichen Aufschwung ohne die Geltung von Demokratie und Menschenrechten gesehen wird. Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sind kollektive Lernprozesse, die immer einen Anfang, aber nie ein Ende haben. Wer den Willen zu einem entsprechenden Anfang zum Ausdruck bringt, den sollte man unterstützen. Vielleicht hätten wir rückblickend noch intensiver über den Zeitpunkt der Aufnahme nachdenken sollen.
Das Parlament: Wo sehen Sie die Ursachen für die Reformunfähigkeit?
Andreas Gross: Ich würde lieber vom fehlenden Willen zur Reform reden. Die Ursachen für diesen fehlenden Willen sind vielfältig, wobei sie je nach Funktion und Zugehörigkeit zu den oligarchischen Kernen unterschiedlich ausgeprägt sind. Einerseits gibt es bequeme Ausreden, wie der gegen Armenien verlorene Krieg von 1991/92, der fast eine Million Flüchtlinge zur Folge hatte und zur Besetzung von etwa einem Fünftel des azerischen Territoriums führte. Andererseits scheint die Gier nach dem Ölreichtum bei einigen Oligarchen und Amtsträgern sehr groß. Schließlich garantiert die neue Ölpipeline vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer, die vor zehn Jahren beschlossen wurde und in diesen Tagen erstmals richtig funktioniert, für die kommenden zehn Jahre Einnahmen in Höhe von über 100 Milliarden Dollar. Möglicherweise fehlt auch die Einsicht, wie bedrohend dieser einseitig genutzte Reichtum für das politische und soziale Gefüge der Gesellschaft sein kann und dass mit Repression niemals Stabilität zu erreichen ist.
Das Parlament: Die Kaukasusregion insgesamt ist seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion Ende der 80erund zu Beginn der 90er-Jahre ein Unruheherd. Gibt es gemeinsame Traditionen?
Andreas Gross: Selbstverständlich, und zwar auf allen Ebenen: kulturell, soziologisch, historisch, politisch und wirtschaftlich. Machtbeziehungen sind immer noch sehr personal, familien- und clangebunden, und basieren weniger auf Institutionen. Ebenso fehlen Erfahrungen, die den Segen vertikaler und horizontaler Macht- und Gewaltenteilungen plausibel machen. Deshalb verfügen nur einige wenige über alle Macht. Wer aber über zu viel Macht verfügt, beginnt das Privileg zu schätzen, ungeachtet der möglichen, verheerenden Konsequenzen. Kritik wird repressiv unterbunden; der Präsident glaubt entscheiden zu dürfen, ob und wann die Opposition etwas sagen darf. Politische Auseinandersetzungen werden als Kampf zwischen Leben und Tod missverstanden. Ich bin mir sicher, dass dies keine kaukasischen Eigenheiten sind, sondern die Folge viel zu langer totalitärer Herrschaft, welche die vormodernen Traditionen ländlicher und solidarischer, sehr gastfreundschaftlicher Lebensgemeinschaften fast erdrückt haben.
Das Parlament: Wie soll sich der Europarat nun im Januar bei der Debatte über das Land verhalten?
Andreas Gross: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung im Europarat. Das erste Gremium hat die entscheidenden Befugnisse, wird sie aber wegen diplomatischer Gepflogenheiten kaum nutzen. In der Parlamentarischen Versammlung haben wir vergleichsweise wenig Macht. Wir können die Legitimität der aus den schwer manipulierten Parlamentswahlen hervorgegangen azerischen Delegation in Frage stellen und ihr das Stimmrecht verweigern. In der Versammlung hat sich die aus der ukrainischen orangenen Revolution hervorgegangene Maxime durchgesetzt, wonach in Europa einem Volk Wahlen nicht mehr gestohlen werden dürfen. Entsprechend wird es wohl zu harten Diskussionen kommen.
Das Parlament: Würden Sie mit einem Ausschluss der Abgeordnicht den Interessen der Machthaber in die Hände spielen, die den Europarat offenbar als lästigen Mahner sehen?
Andreas Gross: Wie viele von ihnen wirklich weg wollen, ist unklar. Am liebsten wäre den meisten von ihnen wohl die Akkumulation ihres Reichtums, die Dominanz der politischen Szene unter dem Stern des Europarates - was uns aber gegenüber dem azerischen Volkes völlig unglaubwürdig machen würde. Einige würden auf diese Weise wahrscheinlich in die Hände religiöser Fundamentalisten getrieben, die vom Zynismus vieler westlicher Politiker und der Diskreditierung der westlichen Werte profitieren. Freuen würden sich gewiss einige iranische Mullahs. Aber auch das ist unserer Sache gewiss nun auch nicht förderlich.