Meist sind es die kleinen Dinge, die einem in Erinnerung bleiben. Ein bestimmter Geruch, der liebevolle Kosename, die aufregenden Streifzüge durch das Unterholz und vor allem: die warme, große, beschützende Hand, in die man seine eigene kleine so gerne gelegt hat. Die Hände von Oma und Opa haben uns geführt, gehalten, ermuntert. Heutzutage leben Großeltern oftmals in anderen Städten oder sind schon sehr alt. Doch gerade weil die Familienbande nicht mehr so eng sind wie früher, gibt es immer mehr Großelterndiens-te und Patenschaftsinitiativen - nicht nur für die ganz Kleinen.
"Meine Enkelin Jule liebt es, wenn wir gemeinsam Kuchen backen", erzählt Margot Herrmann aus Köln. Jule ist elf Jahre alt. Die Eltern arbeiten beide als Selbständige - ihnen bleibt nur wenig Zeit. Doch Jule hat "zum Glück" ihre Oma, erzählt sie und schaut glück-lich zu Margot Herrmann hoch. Für einen kurzen Moment halten beide mit dem Backen inne. Dann mischen sie weiter, zerschlagen die Eier, mengen sie zu Zucker und Butter, am Ende kommt noch das Mehl hinzu. Nachdem der Kuchen in den Ofen geschoben worden ist, tragen die beiden alles in ein selbst entworfenes Kochbuch ein. So werden Omas Geheimtipps an die nächste Generation weitergegeben - sie werden zu Familienrezepten.
Die 70-Jährige genießt die Zeit mit ihrer Enkelin. Denn auch sie musste früher, als sie jung war, viel arbeiten und hatte nicht immer genügend Mußestunden mit ihren Kindern. "Ich bin heute viel geduldiger", sagt sie. Manchmal fragt Jule ihre Oma auch, wie sie denn als Kind gelebt hat. Dann erzählt Margot Herrmann ihr vom Hunger in den Nachkriegsjahren, der sie so stark prägte, dass sie bis heute keine Lebensmittel wegwerfen kann. Sie berichtet von den Baracken im Winter, in denen sie einige Zeit mit ihrer Familie lebte, und wo es so kalt war, dass einmal in der Nacht ihr kleines Aquarium zugefroren ist. Es sind Erinnerungen wie diese, die Vergangenheit begreifbar machen - mehr als die Zahlen und Fakten aus dem Schulunterricht. Großeltern sind eben auch lebendige Geschichte.
Nicht jeder hat das Glück mit seinen eigenen Großeltern aufzuwachsen. Gerade in Großstädten kommt es häufig vor, dass die Verwandten weit weg wohnen - und damit im Alltag wichtige Bezugspersonen fehlen. Es gibt wenige vertraute Menschen, die sich um den Nachwuchs kümmern können, wenn die stressgeplagten Eltern arbeiten müssen. Denn auch die Kita macht irgendwann zu. Und dann?
Wo die Großeltern nicht präsent sind, da können Wunsch-Omas und -Opas oder Paten helfen. Sie werden über Initiativen wie "Big Friends for Youngsters" (Biffy) vermittelt. Biffy ist ein Projekt, das sich um ehrenamtliche Patenschaften für Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 17 Jahren kümmert. Einmal in der Woche treffen sich die Erwachsenen mit ihren Schützlingen, um ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen - aber vor allem, um gemeinsame Zeit zu verbringen.
Berlin-Kreuzberg: Der zehnjährige Vinosanth Manikavasagar ist auf dem Weg zu seinem Paten Helmut Becker. Kennen gelernt haben sie sich vor zweieinhalb Jahren bei Biffy. Ein Grund, einen Paten zu finden, war für Familie Manikavasagar, dass die Eltern ihrem Jungen die Integration in die Gesellschaft erleichtern wollten. Der tamilischen Familie ist es wichtig, dass ihr Sohn häufiger Deutsch spricht. Und ganz nebenbei hat er auch noch viel Spaß.
Bowling spielen, Fahrradtouren machen, im Sommer an den See fahren oder ins Kino gehen - Vinosanth und sein Pate Helmut Becker unternehmen viel miteinander. Der 65-Jährige begleitet Vino, wie er ihn nennt, auch zum Schlagzeugunterricht. Schaut ihm beim Üben zu. So viel Zeit hatte er früher nur selten für seinen leiblichen Sohn. Der ist heute längst erwachsen. "Am Anfang war er ein bisschen eifersüchtig, dass ich so viel Zeit mit Vino verbringe", erzählt Helmut Becker. Denn als sein Sohn zehn war, lebte die Familie schon getrennt. Doch der Neid hat sich schnell gelegt. Wenn Beckers Sohn nun in Berlin ist, sind sie auch manchmal zu dritt unterwegs.
Und was macht Vino am liebsten mit seinem Paten? "Ganz toll fand ich es, als mein Bruder und ich mit Helmut ein Schwert gebastelt haben", sagt der Junge und strahlt Becker an. Gebaut haben sie es aus alten Liegestuhl-Teilen. Vino weiß noch ganz genau, wie das ging: "Wir haben es erst zurechtgesägt, dann daran gefeilt und geschliffen." Heute steht das Schwert in seinem Schlafzimmer.
An diesem Abend wird jedoch nicht gespielt, sondern gelernt. Denn bald stehen wieder Klassenarbeiten an - Deutsch und Erdkunde. Ebenfalls zum Lernen sind am selben Abend in Berlin-Tiergarten auch Rudi Simon und sein Pate Klaus Müller verabredet. Der 16-jährige Simon geht zur Realschule. Wenn er in diesem Halbjahr gute Noten schreibt, kann er aufs Gymnasium gehen und sein Abitur machen. "Ich möchte mal Manager werden", sagt Rudi Simon. Auf die Idee ist er unter anderem im Gespräch mit seinem Paten gekommen.
Auch die beiden haben sich über Biffy kennen gelernt. Klaus Müller hatte in der Zeitung vom Projekt gelesen und wollte sich einbringen - einem jungen Menschen helfen. Die Hilfe kann Rudi Simon gut gebrauchen. "Meine Mutter ist allein erziehend und muss viel arbeiten", sagt der Sohn einer Russlanddeutschen. "Die Treffen mit meinem Mentor ermöglichen mir neue Perspektiven." Mentor, so nennt er Müller. Manchmal sprechen sie über alltägliche Dinge - etwa die bevorstehende Mehrwertsteuererhöhung und was das für Auswirkungen hat. Im Sommer gehen sie auch schon mal Inline-Skaten, doch meist treffen sie sich zum Lernen. "Rudi hat ja eh seine Freunde, mit denen er loszieht", sagt der 55-Jährige. Rudi lächelt.
Die Arbeit als ehrenamtlicher Pate oder Mentor reduziert sich nicht nur auf soziales Engagement. Es ist auch eine Möglichkeit, dass mehrere Generationen zusammenkommen und voneinander lernen. Denn noch immer gilt: Außerhalb der Familie und Arbeitsstelle finden Alt und Jung kaum zusammen. "Vor allem für diejenigen, die keine Kinder haben, besteht im Alter die Gefahr, dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen werden", sagt Hans Bertram, Familienforscher von der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei einer Studie mit über 60-Jährigen kam heraus: Wer Kinder hat, verfügt über viel mehr Interaktionspartner als Menschen ohne Familie. "Doch inzwischen lebt ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr in solchen Generationsbeziehungen", sagt Bertram.
Wie zum Beispiel Edith Kristoffersen. Die 64-Jährige hat selbst keine Enkelkinder - ihre Tochter ist vor vier Jahren tödlich verunglückt. Seit zweieinhalb Jahren schon macht sie beim Großelterndienst mit. Das Projekt des Berliner Frauenbundes e.V. richtet sich an Eltern mit Kindern bis sieben Jahre. Sie unterstützen vor allem Alleinerziehende, aber auch Familien, bei denen beide Elternteile berufstätig sind. Der Großelterndienst bringt Wunsch-Omas und -Opas und Suchende zusammen.
Edith Kristoffersen und Familie Itter haben sich auf Anhieb gut verstanden, außerdem wohnen beide in Berlin-Lankwitz nah beieinander. So kann es auch mal sein, dass Kristoffersen spontan einspringt, wenn beide Elternteile arbeiten müssen. Die ehrenamtliche Arbeit ist für die Rentnerin eine willkommene Abwechslung. Auch sie hatte damals eine Großmutter, die auf ihre Tochter aufpasste. "So gebe ich das jetzt an andere weiter", sagt Kristoffersen. Zwei Mal in der Woche holt sie die fünfjährige Luise und ihren kleinen Bruder Jan von der Kita ab, geht mit ihnen hinaus zum Spielen, vor allem aber liest sie den Kleinen viel vor - das trainiert ihre Sprachfertigkeit.
"Woan, tuuu, srii…", fängt Luise auf Englisch an zu zählen. Woher sie das kann? "Das hat mir Edith beigebracht", sagt sie stolz. Die 5-Jährige findet es toll, dass die Wunsch-Oma oft bei ihnen ist. "Mein Herz wird so weit, wenn ich mit den beiden zusammen bin", sagt Kristoffersen und lächelt. "Ich bin 64 und werde von Tag zu Tag jünger."
400 Wunsch-Omas und -Opas sind in Berlin angemeldet, rund 1.000 Eltern suchen eine gute Betreuung für ihre Kinder. Der Bedarf ist also hoch - das Potenzial an älteren Freiwilligen auch. Bereits im Jahr 2030 wird jeder Dritte Deutsche über 60 Jahre alt sein. Schon heute betreuen 27 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer im Alter von 55 bis 69 Jahren ihre Enkelkinder oder andere Kinder, wie das Deutsche Zentrum für Altersfragen im Alterssurvey 2005 festgestellt hat.
"Zumindest in Ansätzen ist eine Kultur der generationsübergreifenden Kooperation zu erkennen", sagt Volker Amrhein, Leiter des Projektbüros "Dialog der Generationen". Die Initiative ist eine Art Plattform für Projekte wie Biffy und den Großelterndienst. "Wir schätzen, dass es bundesweit 10.000 Projekte gibt." Sie bilden eine Brücke zwischen den Generationen. Ziel ist es, dass sich langfristige Beziehungen aufbauen, sich Freundschaften bilden oder die Wunsch-Großeltern und Paten sogar eine Ergänzung zur Familie werden.
So ist es zum Beispiel bei Helmut Becker und Vino. Wie im vergangenen Jahr, werden sie auch diesmal gemeinsam mit Beckers Sohn den Weihnachtsbaum schmücken - und zusammen feiern. Am ersten Weihnachtsfeiertag ist dann Familie Becker bei Vinos Familie zum Essen eingeladen. So entsteht in diesem Falle nicht nur ein Dialog der Generationen, sondern auch der Kulturen.