So etwas hatte es seit der "Spiegel-Affäre" 1962 nicht mehr gegeben: Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) durchkämmen am 12. September 2005 die Wohnung eines Journalisten, schleppen 15 Umzugskartons mit Aktenordnern, Tonbändern und Kassetten aus den Räumen und durchforsten die Potsdamer Redaktion, für die er schreibt. Computer und Adresskarteien werden durchstöbert, Unterlagen gesichtet, Dokumente beschlagnahmt, "als sei man auf einem Flohmarkt der Raritäten", wie "Cicero"-Chefredakteur Wolfram Weimer später feststellt. Grund der Durchsuchungsaktion: Der Journalist Bruno Schirra hatte in einem Porträt über den Terroristen Abu Mussab Al-Sarkawi aus einem Geheimdossier des BKA zitiert und Informationen über dessen Verbindungen in den Iran und seine Drahtzieher veröffentlicht. Offenbar hatte ein BKA-Beamter allzu offen mit Schirra geplaudert. Die Ermittlungsbehörden rechtfertigten die Durchsuchung damit, Schirra habe mit der Veröffentlichung des Materials "Beihilfe zum Geheimnisverrat" geleistet. Dass die BKA-Beamten weder in der Wohnung Schirras noch in den Redaktionsräumen auf die gesuchte Akte stießen, war da nur noch eine Randnotiz. Dafür fanden sie geheime Unterlagen zur Leuna-Affäre, Details zu Spürpanzergeschäften und Informationen über Waffenlobbyisten. "Zufallsfunde", wegen der die Staatsanwaltschaft nun ebenfalls ermittelt.
Für den innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, "ein hochproblematischer Vorgang": "Wenn in diesem Bereich allein die Tatsache, dass jemand vertrauliches Material in den Händen hat, reicht, daraus ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zu machen, können sie die Pressefreiheit mit der Pfeife rauchen." Das allerdings sah der zuständige ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily in der eigens einberufenen Sondersitzung des Innenausschusses ganz anders: Er verwahrte sich im Bundestag gegen alle Vorwürfe und bezeichnete es als "groben Denkfehler", die Ermittlungen im Fall Schirra als Verletzung des Presserechts zu verstehen. "Straftaten haben keinen Schutz verdient", polterte er den Kritikern aus allen Fraktionen entgegen, und betonte, dass sich der Staat gegen den Verrat von staatlichen Geheimnissen zur Wehr setzen müsse.
Doch wo endet die Pressefreiheit dann, und wo beginnt das öffentliche Interesse des Staates? Was und worüber dürfen Journalisten schreiben und welche Quellen dürfen sie dabei verwenden? Und vor allem: Wann kann beziehungsweise muss der Staat sogar in die Pressefreiheit eingreifen?
In der Diskussion um diese Fragen ist in den vergangenen Wochen eines deutlich geworden: Der Staat muss gute Gründe haben, wenn er dieses elementare Grundrecht einschränken will. Schließlich erfüllt die Presse wichtige Aufgaben: Sie soll die Bevölkerung informieren, den Staat kontrollieren und nicht zuletzt Missstände aufdecken. "Dazu gehört eben auch", so der Geschäftsführer des Deutschen Presserats, Lutz Tillmanns, "das kritische Begleiten staatlicher Verwaltung, also die Arbeit der Polizei, der Justiz sowie der Bereich der inneren Sicherheit." Das kann für den Staat bisweilen unangenehm sein, wie zahlreiche aufgedeckte Skandale in der Bundesrepublik zeigen, die "Spiegel-Affäre" etwa oder der Fall Barschel. Und doch kann er sich dem nicht einfach entziehen, wie der Medienexperte Siegfried Weischenberg meint: "Im konkreten Einzelfall muss der Staat nachweisen können, warum ein Wert höher angesetzt werden kann als die Pressefreiheit. Die Verhältnismäßigkeit muss stimmen. Im "Fall Cicero" jedoch sind Justiz und Behörden eindeutig zu weit gegangen."
Und es scheint, als sei dies in der Vergangenheit häufiger vorgekommen: "Mir ist nicht ein einziger Fall bekannt", so Weischenberg, "in dem nachgewiesen werden konnte, dass das höchste Staatsziel auf dem Spiel steht, wo also ein Journalist nach einer Durchsuchungsaktion in einem Verfahren tatsächlich verurteilt wurde". Und das, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten durchaus gegen Journalisten ermittelt wurde: Nach Angaben des Deutschen Journalistenverbandes wurden von 1987 bis zum Jahr 2000 über 150 Überwachungsfälle, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen bei Journalisten registriert. Offenbar, so vermutet Lutz Tillmanns, gehe es dem Staat vor allem darum, Lücken im eigenen System aufzuspüren. "Dann wird wegen Verstoßes gegen Geheim- und Dienstvorschriften ermittelt, und die Behörden kommen auf die Idee, Redaktionen zu besuchen, journalistisches Material zu beschlagnahmen oder Journalisten zu observieren." Diese Tendenz hat nach Ansicht der Journalistenverbände in den letzten Jahren sogar zugenommen (siehe Interview mit Michael Konken unten).
Auch der Publizist Erich Schmidt-Eenboom hat das erfahren müssen. Nachdem er im Jahr 1993 ein Buch veröffentlicht hatte, das zahlreiche Interna aus dem Bundesnachrichtendienst enthielt, begann der Geheimdienst, sein Weilheimer Forschungsinstitut für Friedenspolitik zu observieren. Wie erst kürzlich bekannt wurde, waren von 1993 bis 1996 Kameras auf den Eingang des Instituts gerichtet, alle Besucher wurden registriert und identifiziert - offenbar in der "Hoffnung, man würde dadurch BND-Informanten enttarnen", so der Friedensforscher. Parallell dazu griff der BND bis zum Jahr 2003 das Altpapier der Forschungsstelle ab. "Wenn die zehn Jahre lang meinen gesamten Routineschriftverkehr durchforstet haben, dann kriegen die natürlich auch ein genaues Bild darüber, mit wem ich wie zusammenarbeite." Ein Umstand, den Medienexperte Weischenberg für "geradezu sagenhaft" hält: "Wenn das so stimmt, frage ich mich, was da eigentlich über die Jahre betrieben worden ist. Viele Journalisten, die sich in solchen heiklen Bereichen bewegen, werden das mit Erschrecken zur Kenntnis genommen haben."
Im November hat sich der damalige BND-Präsident August Hanning dafür bei Schmidt-Eenboom entschuldigt und eingeräumt, dass das Vorgehen des Geheimdienstes nicht nur "unverhältnismäßig" gewesen sei, sondern auch "rechtswidrig". Dennoch ist der Schaden groß: "Wenn Sicherheitsbehörden auf diese Weise versuchen, in die Pressefreiheit einzugreifen", so Schmidt-Eenboom, "gefährden sie letztlich die demokratische Ordnung dieses Landes". Und Lutz Tillmanns befürchtet: "Kollegen, die investigativ arbeiten, müssen doch jetzt immer eine Schere im Kopf haben. Sie können sich ja fast nicht mehr ohne Probleme mit Informanten treffen, weil sie davon ausgehen müssen, dass sie abgehört werden." Politiker wie Journalistenverbände fordern daher, den Informantenschutz wieder zu stärken und die Rechte von Journalisten besser zu schützen. "Das Problem ist beispielsweise", sagt Dieter Wiefelspütz, "dass das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten leicht unterlaufen werden kann, wenn man sie zu Beschuldigten macht." Dabei würden viele Journalisten mit eingestuftem Material arbeiten, ohne deswegen gleich Straftäter zu sein.
Dennoch: Auch wenn die aktuellen Vorfälle fragwürdig sind und genau untersucht werden müssen - die Pressefreiheit ist in Deutschland nicht prinzipiell bedroht. Siegfried Weischenberg betont mit Blick auf die schwierige Menschenrechtssituation in vielen Staaten sogar: "Es gibt Länder in der Welt, die wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten."