Das Lesen war ganz schön schwer", meint Jessica, "das Malen war aber wieder leicht." Am Schluss des Kurses hat die Schulklasse viel Spaß, die künstlerischen Wortdarstellungen der Mitschüler zu erraten. Literarische Entdeckungstouren unternehmen, Spaß am Lesen vermitteln, Bücher sammeln und Jugendliteraturforschern eine Heimat auf Zeit zu bieten, kurz: "Menschen für das Lesen zu begeistern, vom Kind bis zur Oma, das ist unsere Aufgabe", sagt IJB-Direktorin Barbara Scharioth.
Zu den Höhepunkten der Sammlung gehören die Lesemuseen in den trutzigen Türmen des alten Schlosses. Ein Lesemuseum - der Ausdruck wurde in der IJB erdacht - bereitet das Werk eines Schriftstellers so auf, dass der Besucher schnell auf die zentralen Aspekte der Literatur stößt. Der Nachlass des von der Insel Helgoland stammenden Erzählers James Krüss (1926 - 1997) ist um eine Stahl-Glas-Vitrine gestaltet, die an einen Leuchtturm erinnert und von einer alten Schiffslaterne gekrönt wird. Damit ist gleich ein Leitmotiv der mitunter maritimen Geschichten des Jugendbuchpreisträgers im Blick. Erstausgaben, Manuskriptseiten, Auszeichnungen und eine Bronzebüste des Autors rufen beim erwachsenen Besucher Kindheitserinnerungen hervor, wecken beim Jugendlichen Interesse an der Lektüre.
Ein anderes Lesemuseum erinnert an Erich Kästner. Der Schöpfer der "Konferenz der Tiere" gehört zu den ersten Förderern der IJB, deren Anfänge auf das Jahr 1946 zurückgehen: Die Journalistin Jella Lepmann (1891 - 1970), eine aus Stuttgart stammende Jüdin, die die NS-Zeit in der Emigration überlebte, kehrte als Frauen- und Jugendberaterin der US-Besatzungsmacht nach Deutschland zurück. Lepmanns Anliegen war es, im Rahmen des amerikanischen Umerziehungsprogramms die Völkerverständigung bereits bei Kindern beginnen zu lassen. Die jungen Deutschen sollten mit neuer "geistiger Nahrung" versorgt und aus dem Sog der NS-Ideologie befreit werden.
Dafür sammelte Lepmann weltweit 4.000 Kinderbücher, die sie 1946 im Münchner "Haus der Kunst" präsentierte. Die Öffentlichkeit nahm Lepmanns Projekt begeistert auf; die Ausstellung wanderte durch Deutschland. Drei Jahre später rief Lepman die IJB ins Leben, der sie selbst bis 1957 als Direktorin vorstand. 1983 siedelte die IJB vom ersten Domizil in Schwabing in die Blutenburg über.
Heute lagern dort mehr als 500.000 Kinderbücher in 130 Sprachen. Die Sammlung historischer Kinderbücher umfasst weitere 60.000 Titel. Dazu kommen noch etwa 30.000 Bücher der Sekundärliteratur. "Wir sind die größte Kinder- und Jugendbuchbibliothek der Welt", sagt IJB-Pressesprecherin Bettina Neu.
15 Stipendien vergibt die IJB jedes Jahr, um Jugendbuchforschern aus aller Welt einige Wochen lang ihre Bestände aufzuschließen. Alle Bücher, die in der IJB gesammelt werden, sind Schenkungen von Verlagen - pro Jahr etwa 9.000 Werke. Nur so sei eine derartige Sammlung möglich, erklärt Neu. Die Verlage haben durchaus ein Eigeninteresse an den Bücherspenden, wird in der IJB doch "The White Ravens" herausgegeben - eine Empfehlungsliste der besten Jugendbücher der Welt. Diese Übersicht umfasst in diesem Jahr 250 Titel in 31 Sprachen aus 48 Ländern.
Die Bücher, die es in "The White Ravens" schaffen, haben die Chance, von Bibliotheken bestellt, übersetzt, besprochen, in Schulen gelesen, im Buchhandel gekauft zu werden, was den Umsatz der Verlage fördere. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit also. Doch allein von Spenden könnte die IJB, in der 22 Mitarbeiter arbeiten, nicht leben. Bund, Land und Stadt München geben Zuschüsse. 1996 ist die IJB in eine Stiftung umgewandelt worden. Sie soll langfristig die Existenz sichern, denn bei der gegenwärtigen Lage der öffentlichen Haushalte, ist auch die IJB von Streichungen betroffen, so Scharioth.
Dass Leseförderung mehr als nur ein Bildungsvergnügen ist, sondern auch gesellschaftliche Relevanz hat, ist spätestens seit den schlechten PISA-Ergebnissen unumstritten. Die internationale Vergleichsstudie hatte ergeben, dass 23 Prozent der deutschen Schüler schlechte Leser sind und nur neun Prozent als sehr gute Leser gelten können. Selbst unter den deutschen Schülern, die ordentlich lesen könnten, gebe es 42 Prozent Lesemuffel. Unter den 14 verglichenen Ländern belegt damit Deutschland den letzten Platz. Unzureichende Lesekompetenzen, so die PISA-Forscher, seien keine Schönheitsfehler, sondern zögen gesellschaftliche Konsequenzen nach sich: Wer nicht das Aufschlüsseln und Verstehen von Texten beherrsche, könne an vielen gesellschaftlichen Lebensbereichen nicht teilnehmen. Dabei kommt der "Lesesozialisation" erhebliche Bedeutung zu. Lesen beide Eltern und hat das Kind Abitur, wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent zu einem "Vielleser". Liest aber kein Elternteil, nützt auch das Abitur nichts: Der Anteil der Vielleser in dieser Untersuchungsgruppe liegt bei 30 Prozent, bei Schülern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen bei nur fünf bis neun Prozent. Seit 1992 hat sich diese Tendenz sogar verstärkt.
Gerade deshalb ist für Scharioth die Arbeit mit Grundschulklassen wichtig, weil hier schichtenübergreifend Kinder erreicht würden. Um Schüler, die mit PC und Fernseher im Kinderzimmer aufwachsen, für Bücher zu gewinnen, setzt Scharioth auf individuelle Zugänge: "Kinder werden nur von Geschichten gepackt, die sie persönlich interessieren und angehen. Die Kunst besteht darin, die Kinder da abzuholen, wo sie sind, aber auch ihre Zurückweisung zu akzeptieren." Das sei für sie "fast eine moralische Frage". Die beste Methode, Lesen attraktiv zu machen, sei das Vorlesen: Lesen sei ein einsamer Vorgang, der nicht jedem Kind sofort liege. Das Zuhören durchbreche dagegen die Einsamkeit für einen Moment. Deshalb organisiert die IJB Begegnungen von Kindern mit Schriftstellern. "Ohne persönliche Vermittlung läuft nichts", sagt Scharioth. "Wenn die Kinder erkennen, dass Bücher tolle Lebensbegleiter sind, dann haben wir eines unserer Ziele erreicht."