Willi war Alkoholiker. Nach 34 Jahren hat er mit dem Trinken aufgehört. Der 48-jährige Arbeits- und Obdachlose hatte im Zentrum Lehrter Straße der Berliner Stadtmission nicht nur Unterkunft, sondern auch Halt gefunden, eine Wohnung, einen Job.
"Einen Hoffnungsträger", nennt ihn Hans-Georg Filker. Für solche wie ihn engagiert sich der in Sachsen geborene Theologe. Er ist Direktor der Berliner Stadtmission. "Mission, Diakonie und Begegnung, das sind die Bestandteile, die wir unter einem Dach vereinen wollen", erklärt er das Anliegen. Die im Jahre 1877 gegründete Stadtmission betreibt in Berlin mehr als 40 soziale Einrichtungen mit mehr als 500 haupt- und zahllosen ehrenamtlichen Mitarbeitern.
Das 20.000 Quadratmeter große Areal mit Häusern und Parkanlagen an der Lehrter Straße, nur einen Steinwurf entfernt vom neuen Hauptbahnhof Berlins, ist dafür mehr als geeignet. "Zwischen Knast und Kanzleramt" beschreibt Filker das Gelände plakativ, das der Stadtmission vom damaligen Bezirk Tiergarten angeboten wurde. Filker wartete nicht auf Hilfe, sondern inszenierte selbst eine Großspendenkampagne: Unter dem Titel "20.000 qm gute Saat für Berlin". Auch so ungewöhnliche Werbeslogans wie "Hier ist das Regierungsviertel käuflich!" erzielten Wirkung; der Kaufvertrag ist mittlerweile notariell beglaubigt.
Ein Filetstück inmitten der Hauptstadt als Treffpunkt von Obdachlosen, Alten, Kranken, sozial Bedürftigen? Nein, nicht nur. Mehrere Projekte laufen nebeneinander: Die Krankenstation, eine Hilfe für Straffällige mit mehr als zehn Jahren Gefängnisstrafe, "Drinnen und Draußen" genannt, das Übergangshaus für Leute, die wie Willi weg wollen von der Straße. Und für etwa 30 Personen die Notübernachtung.
Bezirkliche Unterstützung erhält die Mission für etwa 60 Leute. Die darüber hinausgehenden Finanzierungsmittel stammen aus Spenden und von gut prosperierenden Hotels in der Berliner Innenstadt und mehreren Ferienhotels auf Rügen, Usedom oder Zingst. Ob Einzelreisende, Jugend-, Studenten- oder Seniorengruppen, hier begegnen sich Menschen. Es sind nicht die unter sich, die am Rande der Gesellschaft leben. Sie wohnen vielmehr mit jenen zusammen, die mitten in der Gesellschaft sind. Neben den Gästen des Jugendhotels trifft man auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages mit Besuchergruppen. Oder Studenten aus dem Studentenwohnheim.
Jeder braucht einen Ort zum geistigen und auch geistlichen Auftanken, wenn er merkt, dass das Leben nicht nur aus Geschäftigkeit, Konsum und Spaß besteht. Das war für die Berliner Stadtmission und deren Direktor Filker der Grund, alle drei Wochen ein Frühstück anzubieten, verbunden mit einer Andacht. Zwischen 7.30 und 8.30 Uhr treffen sich Leute aus dem "Regierungsviertel", aus Ministerien, den Parteizentralen und Lobbyisten, ob konfessionell oder nicht, ob evangelisch oder katholisch.
Filker schaut aus dem Fenster des Büros auf das gegenüberliegende Haus, das Übergangshaus. "Man muss wissen, dass 20 Prozent der Obdachlosen Akademiker sind. Denen geht es nicht um Essen und Trinken oder ein Dach über dem Kopf. Wenn das Lebensglück zerbrochen ist, stellen sich Fragen nach Schuld, nach Vergebung, nach dem Glauben, nach Gott." Als der US-Botschafter Timken im Dezember vergangenen Jahres in der Stadtmission zu Besuch war, konnten sich viele mit ihm fließend Englisch unterhalten.
"Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn" - so heißt es im Buch Jeremia, Kapitel 29, Vers 7 des Alten Testaments. Der Spruch steht in der etwas ungewöhnlich anmutenden Kapelle der Stadtmission. Vielleicht ist die Mission das Beste, was Berlin passieren kann. Auch wenn Wolfgang, der wie Willi obdachlos war, bevor er sich um den Garten im Zentrum Lehrter Straße kümmerte und dort eine Wohnung bezog, es nicht geschafft hat. Er lebt wieder auf der Straße. Vorerst.