Sind Sie Jude, werde ich mindestens fünfmal am Tag gefragt", erzählt Russek. "Nein. Nobody is perfect", pflegt er zu antworten, so als sei ihm, dem überzeugten Krakauer und Mittler zwischen den Kulturen, der jüdische Witz bei der jahrelangen Arbeit mit in den Schoß gefallen.
Die Stiftung Judaica nimmt 13 Jahre nach ihrer Gründung einen festen Platz im kulturellen Leben Krakaus ein. "Eigentlich sind wir eine Bürgerinitative", sagt Russek über die Stiftung, die seit 1993 in über 2.000 Veranstaltungen mehr als 125.000 Besucher angezogen hat. "Für uns, die wir Polen, aber keine Juden sind, ist die Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur ein Test für unsere bürgerliche und menschliche Solidarität."
Für Juden aus dem Ausland ist Polen heute ein einziger Friedhof, hört man immer wieder. Zugleich eignet sich Krakau für sie wie kein zweiter Ort, dem einstigen Alltag polnischer Großstadtjuden nachzuspüren. In Breslau, Lodz oder Warschau, wurden mit den Menschen auch die jüdischen Viertel zerstört. Nicht so in Krakau. "Hier wirkt jedes Stück Mauer, jede Straße, die ihre Namen behalten haben, jedes Gebetshaus so, als sollten die Bewohner morgen zurückkehren", heißt es in einer Huldigung an Kazimierz.
Jüdisches Leben in Krakau geht auf das 14. Jahrhundert zurück, als König Kasimir regierte, seine Blütezeit erlangte es im 16. und 17. Jahrhundert, im Zweiten Weltkrieg wurde es dann fast völlig vernichtet.
Längst gibt es aber eine Revitalisierung jüdischer Kultur. Zum Teil ist sie organisch gewachsen, zum Teil macht sie sich an Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" fest, mit Folgen für Krakau, die unterschiedlich beurteilt werden. Bezeichnend ist, von wem diese Revitalisierung ausging: Es waren vielfach nicht-jüdische Polen, geboren in den 50er-Jahren, also nach dem Holocaust, die ihrer Neugier nachgingen.
"Lange Zeit wusste ich mehr über amerikanische Indianer als über polnische Juden", so Joachim Russek. "Das ging auch vielen anderen so." 1986, noch im kommunistischen Polen, gründete er ein Forschungszentrum für jüdische Kultur an der Universität Krakau mit. "Eine kleine Sensation damals, exotisch im positiven Sinn", erinnert sich Russek, "Spätfolge des Experiments unter der Regierung Gierek und ihrem Ansatz eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz."
Ebenfalls in den 50er-Jahren geboren sind Janusz Makuch und Krzysztof Gierat. 1988 riefen sie das Fes-tival der jüdischen Kultur ins Leben. Seitdem hat sich Kazimierz stetig vom Ruch eines schäbigen Krakauer Viertels befreit. Heute ist das Festival fester Bestandteil des Kulturkalenders. Die Abschlusskonzerte auf der Szeroka - der Breiten Straße, eigentlich ein lang gestreckter Platz und einst mit Mikwe, Friedhof und vier Synagogen Mittelpunkt jüdischen Lebens - werden begleitet vom Applaus der Anwohner.
Jüngere Menschen äußern im Gespräch eine unüberhörbare Faszination für die untergegangene Kultur ihrer Stadt und geben sich unpolitisch. "Wir sind Musiker und denken nicht über Historisches und Ideologien nach", sagt Marcin von der Gruppe "Klezzmates". Das Quartett aus Krakau spielt eine Mischung aus Jazz, traditionellen und orientalischen Klezmer-Fragementen. "Es gibt eine neue Bewegung. Klezmer-Musik ist längst nicht nur jüdisch, sondern ein Mix polnischer und russischer Einflüsse, von Zigeuner- und Balkan-Klängen", so Marcin. Die Gruppe "Kroke", jiddisch für Krakau, war eine der ersten, die außerhalb von Krakau auf Tour ging. Zwei der Musiker erfuhren erst als Erwachsene von ihren jüdischen Ursprüngen. Ihre Eltern hatten es ihnen verheimlicht, aus Sorge vor antisemitischen Reaktionen. Weitestgehende Assimilation und Enkelgenerationen, die zurück streben zu ihren Wurzeln, beides findet man in Krakau.
Eines der Gebetshäuser an der Szeroka ist die Remuh-Synagoge, benannt nach Remuh Moses ben Israel Isserles, der hier als einer der großen Rabbis lehrte und an dem angrenzenden Friedhof begraben ist. Fast alle Gräber auf diesem bis 1533 zurückreichenden Friedhof wurden von den Nationalsozialisten geschändet. "Ein Wunder, dass sie überhaupt noch da sind", meint ein älterer Mann, der zur Friedhofsführung lädt. "Nach dem plötzlichen Tod eines deutschen Soldaten am Grab von Moses Isserles interpretierten die Deutschen dies als Fluch. Sie verzichteten auf die totale Zerstörung und machten einen Teil des Friedhofs zur Müllhalde. Glück im Unglück war das."
In den schmalen Gassen von Kazimierz verselbstständigen sich die Gedanken mitunter: Dieser oder jener Passant könnte womöglich ein Nachfahre sein. Rund 120 Bewohner von Krakau sind praktizierende Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde. Noch einmal so viele haben keine spezielle Bindung zu Synagoge und Kult. Die Zahl relativiert sich noch, wenn man bedenkt, dass das Einzugsgebiet der jüdischen Gemeinde von Krakau im Osten bis zur ukrainischen Grenze reicht.
Anders als in Berlin oder Köln steht in Krakau keine Polizei vor den Synagogen. Die Besucher im Viertel fühlen sich sicher, bekunden sie. "Es wäre falsch zu sagen, dass es keinen Antisemitismus mehr gibt", meint wiederum Joachim Russek mehrdeutig.
Die Ressentiments scheinen sich den aktuellen Gegebenheiten angepasst zu haben. In einer Kneipe des jüdischen Viertels wird bei Bier über Zuwanderer aus der Ukraine gewettert. Rund 600.000 sind es in ganz Polen, davon viele in Krakau. "Die christlich-orthodoxe Kirche ist uns fremd, unvereinbar mit der polnischen", meint einer der Stammgäste.
Derselbe Stammgast weiß auch etwas über das Viertel zu erzählen: "Nach 1994 ist viel jüdisches Geld hierhin geflossen. Nachdem ,Schindlers Liste' gedreht wurde, investierten amerikanische Juden." Angesichts noch renovierungsbedürftiger Häuser eher ein Segen als ein Fluch. Allerdings haben die Folgen des Filmerfolgs auch Kritiker auf den Plan gerufen. Die plötzliche Popularität des Themas Holocaust, der florierende Spielberg-Tourismus behagen nicht allen. Werbeslogans wie "Visit places from Schindler's List. Every day 2-hour trips with guide" sind Teil einer modernen Animations-Industrie. Fraglich, ob sich damit Nachdenklichkeit fördern lässt.
Heute buchen viele einen Wochenend-Trip für 19,90 Euro direkt nach Krakau. Auf der Tour "nehmen" sie das eine Autostunde entfernte Auschwitz gleich "mit". Spätestens hier gerät die Reise nach Krakau zum touristischen Trauerritual - ein Kurzreisender kann die Eindrücke unmöglich adäquat verarbeiten. Einige vermischen gar die historischen Fakten, beklagt Angelika Eder, Leiterin des Krakauer Goethe-Instituts. "Deutsche, auch gebildete, verwechseln den Aufstand im Warschauer Getto von 1943 gerne mit dem polnischen Aufstand von 1944 in Warschau. Sie sind überrascht in Auschwitz, dass die polnische Elite zu den ersten Opfern zählte. Das regt Polen unwahrscheinlich auf", so Eder, die das nicht als Relativierung jüdischen Leids missverstanden wissen möchte. Es ist vielmehr ein Hinweis auf deutsche Defizite.
Auf dem jenseits von Kazimierz gelegenen Weichsel-Ufer, im Stadtteil Podgórze, zeugt wenig von den Umrissen des einstigen Ghettos und dem Arbeitslager Plaszów. "Einige Lagerinsassen leben noch heute in Krakau", sagt Professor Alexander Skotnicki. "Zum Beispiel Stella Miller, die ,polnische Anne Frank'. Ich habe Sie dieser Tage operiert", so der praktizierende Arzt für Leukämie. In der "Hohen Synagoge" von Krakau ist er für eine Foto-Ausstellung über jüdisches Leben verantwortlich. Auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Plaszów möchte er ein Museum errichten. "Dort steht nur ein einziges Denkmal und das ist 40 Jahre alt. Eine Schande für die polnischen Behörden", meint er. Ein kleines Reststück der Ghetto-Mauer in Podgórze muss man ebenfalls suchen.
"Das halbe Jahr, das Spielberg 1994 hier gewohnt hat, und sein Film, haben die Stadt sexy gemacht", sagt Joachim Russek mit gedämpfter Stimme. Ja, meint er, es sei legitim, von einer Rejudaisierung ohne Juden in Krakau zu reden. Der Tourist stößt sich wenig daran, der Intellektuelle eher. Ein "Tourismus der Sehnsucht" füllt zwar die Kassen und Hotels, löst aber das Grundproblem nicht: "Es besteht die Gefahr", so Russek, "dass Kazimierz abgleitet in die Situation eines polnischen Disneylandes. Die vielen Klezmer-Gruppen und die Restaurants. Bestellen sie ,gefillte Fisch' und sie bekommen das Gefillte, aber ohne Fisch."
In den Kneipen, in denen bruchlos Englisch gesprochen wird, meint man das "Haus Europa" sei bereits zu Hause, während einem draußen noch morbider Charme à la DDR entgegenlugt. "Die jüdische Kultur von Krakau und ihr Überleben werden nicht als europäischer Kulturschatz wahrgenommen", kritisiert der Direktor der Stiftung Judaica. "Wäre das der Fall, trügen alle dafür Verantwortung. Es geht um ein paar Euro", sagt Joachim Russek, dessen Stiftung große finanzielle Probleme hat.
"So wie die Dinge laufen, bin ich pessimistisch", meint er, nicht ohne alte Vorurteile zu erwähnen, mit denen er unverändert konfrontiert ist. "Einige meinen, alle Juden seien steinreich", so Russek, "und nicht wenige der Spender aus Amerika machen ein langes Gesicht, sobald sie erfahren, dass ich nicht Jude bin und trotzdem einen Teil des jüdischen Erbes von Krakau verwalte."