Vincent Otieno war neun Jahre alt, als die Kämpfer der "Sudanesischen Volksbefreiungsarmee" (SPLA) ihn aus der Hütte seiner Eltern entführten. Binnen weniger Wochen wurde dem heute 28-Jährigen eingebläut, wie ein Maschinengewehr funktioniert und auf wen er es zu richten habe. Dann schickten ihn seine Offiziere an die Front. "Ich habe Menschen erschossen und zusehen müssen, wie neben mir meine Freunde starben." In einem besonders schweren Gefecht, als niemand auf ihn achtete, nahm Otieno die Beine in die Hand und floh.
Heute sitzt er auf dem Rasen vor der Berufsschule von St. Kizito in Githurai, eine Stunde von Kenias Hauptstadt Nairobi entfernt. Dass er seine Flucht überlebt hat, empfindet er immer noch als kleines Wunder. "Ich bin tagelang durch die Wüste gelaufen, ohne Wasser, ohne Lebensmittel." Irgendwann wurde er von kenianischen Grenzbeamten aufgegriffen und ins Flüchtlingslager Kakuma im Norden des Landes gebracht. "Auch da war es ziemlich schlimm, wir mussten mit der lokalen Bevölkerung um Land, Wasser und Essen streiten." In Githurai besucht Otieno zum ersten Mal in seinem Leben eine Schule.
Ermöglicht hat ihm das eine 68-jährige Dominikaner-Schwester, die vor 50 Jahren aus Bayern nach Afrika ausgewanderte. Luise Radlmeier managt die Schule mit harter Hand. Zweieinhalb Jahre haben die Kinder, dann sollen sie fit sein für die Rückkehr in den Südsudan. "Viele haben Angst davor, weil sie dort nichts besitzen - keine Familie, kein Land, kein Vieh", berichtet Radlmeier. Einige seien so früh von den Soldaten verschleppt worden, dass sie nicht einmal mehr wüssten, wo genau im Sudan ihre Heimat ist.
Dazu kommt das Trauma des Krieges. Manchmal, weiß Luise Radlmeier, wachen die jungen Erwachsenen mitten in der Nacht schreiend auf. "Viele Kindersoldaten wurden gezwungen zu quälen, zu morden und zu vergewaltigen, und diese Erinnerungen kommen immer wieder zurück." Ehemalige Kindersoldaten litten oft unter lähmenden Schuldgefühlen, die ihnen einen Neuanfang unmöglich machten.
So erging es auch John, der im Bürgerkrieg mehrere Menschen aus nächster Nähe erschossen hatte. Nach seiner Flucht wusste er nicht, was er machen sollte. "Mein Leben kam mir verwirkt vor, ich fühlte mich von innen her unrein." Erst ein entfernter Onkel, den er im Lager von Kakuma traf, wusste Rat. Er sprach mit den Ältesten im Lager, die bereit waren, ein Reinigungsritual für John abzuhalten.
"Es war abends, mein Onkel und seine Freunde saßen in einem großen Kreis." John musste sich in die Mitte stellen, während die Runde begann, für den ehemaligen Kindersoldaten zu beten. Sie besprengten ihn mit Wasser, beteten erneut und schlachteten zum Abschluss eine Ziege. "Seitdem fühle ich mich wie neu geboren, ich hatte den Mut, wieder weiter zu machen und mein Leben in die Hand zu nehmen."
"Ziemlich heidnisch" findet die Dominikanerin Radlmeier solche Reinigungsrituale. "Aber psychologisch hat das einen sehr guten Einfluss." In einigen Auffanglagern in Uganda sind solche Rituale inzwischen fester Bestandteil der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Dort müssen die Ex-Kindersoldaten auf ein Ei treten, das frisches Leben symbolisiert. Danach springen sie über ein Werkzeug - ein Zeichen für künftige harte Arbeit.
Auf harte Arbeit für die Zukunft setzt auch Luise Radlmeier. Sie kennt die Situation im frisch befriedeten Südsudan gut. "Ohne Ausbildung kann keiner von den Jungs zurück, die hätten da keine Chance." Deshalb lernen die Soldaten von einst in St. Kizito nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch ein Handwerk. "Die Absolventen sind am Ende ihrer Zeit hier qualifizierte Schlosser, Schreiner, Elektriker, Automechaniker oder Schneider", sagt Radlmeier. Mit diesem Abschluss, hofft sie, sollte es möglich sein, einen Job bei einer der Hilfsorganisationen zu finden, die derzeit in den Südsudan drängen.
Luise Radlmeiers einziges Problem ist der Andrang, den sie nicht bewältigen kann. Niemand weiß, wie viele Kinder im mehr als 20-jährigen Bürgerkrieg in den Armeen von SPLA und sudanesischer Regierung gekämpft haben. Mehrere Zehntausend waren es auf jeden Fall. "Ich habe allein im vergangenen Jahr mehr als 300 Ex-Kindersoldaten vor meiner Tür stehen gehabt, und nur 36 habe ich aufnehmen können." Für mehr fehlt der Einrichtung, die unter anderem vom deutschen Hilfswerk missio gefördert wird, schlicht das Geld.
Doch die Abgelehnten bleiben in der Hoffnung, dass die Lage eines Tages besser wird. Jeder angenommene Schüler, weiß Luise Radlmeier, finanziert aus seinem kärglichen Stipendium Essen und Unterkunft für mindestens vier andere Bewerber. "Die halten zusammen, dafür haben sie zu viel Ähnliches erlebt." Radlmeier will niemanden enttäuschen.
Sie hofft darauf, dass schon bald neue Spenden weiteren Ex-Kindersoldaten eine bessere Zukunft eröffnen werden.