Debatten im Deutschen Bundestag erinnern mitunter an ein Schulreferat: Der Abgeordnete steht vorn am Rednerpult, erhöht auf einem Podest, allein mit seinem Manuskript und einem Glas Wasser. Ihm im Nacken sitzt der Bundestagspräsident und wacht über die Redezeit. Manchmal nehmen links davon auf der Bundesratsbank, Landesminister und Ministerpräsidenten Platz, und auf der Regierungsbank rechterhand, die Bundesminister und der Regierungschef. Doch diese nimmt der Redner kaum wahr: Während er spricht, fällt sein Blick auf die versammelte Schar der Abgeordneten, die vor ihm sitzen wie in einer Schulklasse. Über 600 Augenpaare richten sich dann allein in der aktuellen Legislaturperiode auf ihn, vorausgesetzt, es sind alle da: Denn auch das ist ein bisschen wie in der Schule - bisweilen haben die Volksvertreter andere Verpflichtungen.
"Einer spricht, alles sieht her." So beschrieb Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier (CDU) schon 1961 den alten Plenarsaal in Bonn. Er folge "dem Charakter des Hörsaals, an den wir vom Kindergarten über die Grundschule bis zur Universität gewöhnt sind." Weil es die Kollegen "gewöhnlich langweilig" fänden, immer hinzuhören und zu dem einen hinzusehen, beschäftigten sie sich anderweitig. Kein Zustand, befand Gerstenmeier, und warb für eine Umgestaltung des Plenarsaales. Der Haushaltsentwurf des Jahres 1961 sah dafür 1,2 Millionen DM vor, Vorbild sollte das britische Unterhaus sein. Dort sind Regierung und Parlamentsmehrheit traditionell nicht voneinander getrennt, die Abgeordneten sitzen sich stattdessen auf jeweils fünf ansteigenden Sitzreihen gegenüber, getrennt nur durch einen schmalen Gang: Auf der einen die Abgeordneten der Regierungsparteien und die Regierungsmitglieder, auf der anderen Seite die Abgeordneten der Opposition. Am Ende des Mittelgangs sitzt der Speaker. Gerstenmeier hoffte, durch eine ähnliche Aufteilung im Bundestag die Debatten deutlich beleben zu können. Am 8. März 1961 erklärte er in der Haushaltsdebatte des Parlaments: "Wir wollen hier in der allgemeinen Diskussion möglichst viele mit redlichen Gesichtspunkten und eigener Stimme zu Gehör gebracht wissen." Der bisherige Saal aber verbanne aus seiner Mitte geradezu "eine echte, gesteigerte Chance der Diskussion."
Unterstützt wurde der Bundestagspräsident von Mitgliedern der SPD-Fraktion, unter ihnen Karl Mommer: "Wer von uns hätte 1949 diesen Saal so bauen lassen, wenn er vorher gefragt worden wäre...?", bemerkte er. "Dieser Saal ist der schlechteste Saal in der Welt, den ich kenne." Sein Kollege Carlo Schmid forderte, dass "das einander politisch Gegenüberstehen" künftig auch sichtbar zum Ausdruck kommen müsse. Sein Wunsch: dass "in diesem Raume der Bundeskanzler dem jeweiligen Führer der Opposition so gegenübersäße, dass beide das Weiße in den Augen des anderen sehen könnten."
Gegen derartige Pläne regte sich allerdings quer durch alle Fraktionen Widerstand - besonders bei der FDP. Denn sie verstand sich seit jeher als dritte Kraft, und so war es nur folgerichtig, dass sie sich geschlossen der Teilung des Hauses in zwei Seiten widersetzte: Der Umbau, so argumentierten die Liberalen, entspreche nicht dem in der Bundesrepublik vorhandenen Mehrparteiensystem und bringe zudem die verfassungsmäßige Trennung von Parlament und Regierung nicht zum Ausdruck. Auch sei er aus Gründen der Sparsamkeit abzulehnen. Abgeordnete der SPD sowie der CDU/CSU stimmten dem zu.
Vielleicht hatte die Ablehnung der Parlamentarier aber auch mit einer weiteren Besonderheit des englischen Unterhauses zu tun: Schließlich bietet es nur etwa der Hälfte aller Abgeordneten Platz, und das aus gutem Grund, wie Winston Churchill im Jahr 1943 bemerkte: "Wenn das Haus groß genug ist, um alle Mitglieder aufzunehmen, werden neun Zehntel seiner Debatten in der deprimierenden Atmosphäre eines beinahe ganz oder halb gefüllten Raumes geführt werden", so der Premier. Viel lieber aber solle es doch "bei bedeutenden Anlässen Hast und Gedränge geben": Das erzeuge dann "das richtige Gefühl, dass es sich um große Dinge und wichtige Entscheidungen handelt."
Ob es die Weitsicht Churchills war, die die deutschen Volksvertreter schließlich von der "englischen Lösung" überzeugt hat, ist nicht überliefert: Fest steht nur, dass am Ende eine Mehrheit für den Umbau stimmte. Allein: Es kam nie dazu. Denn bevor auch nur ein einziger Spaten den Weg in den Plenarsaal fand, wurde im September 1961 ein neuer Bundestag gewählt. Und der hatte ganz offensichtlich andere Themen auf seinem Plan. Wen wundert das schon: Auch in der Schule ändert sich der Lehrplan schließlich mit jedem Schuljahr.