Anderson, heute Professor an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, arbeitete damals bei den US-Nationalen Gesundheitsinstituten (National Insitutes of Health) in Bethesda (US-Staat Maryland). Er entnahm dem Kind weiße Blutzellen, vermehrte sie in einer Zellkultur und bestückte sie im Reagenzglas mit gesunden "ADA"-Genen. Diese genmanipulierten Zellen wurden dem Kind wieder injiziert. Es war das weltweit erste amtlich genehmigte Gentherapie-Experiment. Von einer "Heilung" konnte allerdings keine Rede sein. Obwohl die Prozedur mehrfach wiederholt wurde, überlebte Ashanti nicht durch die Gentherapie, sondern weil sie das fehlende Enzym auch als Medikament bekam. Trotzdem träumten manche schon vom Sieg über Aids und Krebs, als Anderson das Kind im Mai 1993 der Weltpresse präsentierte. Eine neue Ära der Medizin schien sich aufzutun.
Heute, nach weltweit über 1.000 registrierten Gentherapie-Studien, davon zwei Drittel in den USA, ist diese Euphorie verflogen. Herbe Rückschläge ließen hochfliegende Träume zerplatzen. Doch verlockend klingt es weiterhin, schwere Leiden womöglich an ihrer genetischen Wurzel packen, sie mit gesunder Erbsubstanz heilen oder gentechnisch "reparieren" zu können. So schwer werde es doch wohl nicht sein, ein gesundes Gen in ein anderes Lebewesen "einzuschleusen", denkt sich der Laie - als ob man nur eine winzig kleine Pinzette brauchte, um einem Organismus ein Gen zu entnehmen und es im Erbgut eines anderen an passender Stelle zu platzieren.
Doch so elegant, sauber und simpel, wie es lange dargestellt wurde, funktioniert die Methode eben nicht. Eine erste Hürde, die sich dem gentherapeutischen Ehrgeiz entgegenstellt, ist zellbiologischer Natur. Körperzellen verteidigen sich sehr geschickt gegen fremdes Erbmaterial. Nach außen schotten sie sich mit einer schwer durchdringlichen Schutzhülle (Membran) gegen unerwünschte Eindringlinge ab. Im Zellinneren sind aggressive Enzyme darauf trainiert, fremde DNA binnen Sekunden zu zerlegen.
Anfangs versuchte man es mit Gewalt. Forscher spritzten Gene direkt in den Zellkern. Andere versuchten, mit Stromschlägen oder Chemikalien wenigstens vorübergehend eine Bresche in die Zellmembran zu schlagen. Ende der 70er-Jahre wurde dann die Idee geboren, Viren als Transportvehikel oder "Gentaxis" zu verwenden - im Prinzip eine geniale Strategie, denn Viren bahnen sich selbständig den Weg zu ihrem Ziel. Sie sind darauf getrimmt, ihr Erbgut in menschliche Zellen einzuschleusen. Man konnte sie mit "heilenden" Genen bestücken - und musste sie zugleich mit gentechnischen Mitteln nur so weit entschärfen, dass sie sich im Körper des Patienten nicht vermehren und dort keine Krankheiten mehr auslösen konnten.
1983 präsentierte der amerikanische Molekularbiologe Richard Mulligan erstmals ein funktionsfähiges virales Gentaxi; der Fachmann spricht von einem so genannten "Vektor". In unzähligen Versuchsanordnungen wurde seitdem - so fleißig wie vergeblich - nach dem idealen "trojanischen Pferd" gesucht, das im Empfängerorganismus eine heilende Wirkung erzielt, ohne dort selber größeres Unheil anzurichten. Immer wieder zeigte sich, dass die viralen Gentaxis ihre Vorteile, aber auch ihre gravierenden Nachteile haben.
Bei einem Viertel aller klinischen Studien wurden bislang so genannte "Adenoviren" als Transportvehikel für therapeutische Gene benutzt. Adenoviren sind gewöhnliche Schnupfenviren. Weil sie so weit verbreitet sind, entwickeln die meisten Menschen Antikörper gegen einen oder mehrere der fast 50 bekannten Virustypen. Einer ihrer großen Vorteile für gentherapeutische Anwendungen besteht darin, dass man mit ihnen nicht nur sich teilende, sondern auch ruhende Zellen, wie zum Beispiel Nervenzellen, erreichen kann. Von Nachteil ist, dass unser Immunsystem auf adenovirale Vektoren mitunter hoch empfindlich reagiert. Bei den Mengen, die für eine Gentherapie benötigt werden, kann diese Abwehr so heftig sein, dass man während einer Gentherapie das Immunsystem mit Arzneimitteln lahmlegen muss, wie sie nach Organtransplantationen eingesetzt werden.
Im Zusammenhang mit einem adenoviralen Vektor kam es auch zum ersten Todesfall als direkte Folge einer Gentherapie. Am 17. September 1999 starb der 18-jährige Amerikaner Jesse Gelsinger an Multiorganversagen. Vier Tage vorher hatte ihm ein Team um den renommierten Genforscher James Wilson, Direktor des "Institute for Human Gene Therapy" (IGHT) der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, eine Höchstdosis von genmanipulierten Adenoviren verabreicht. Der junge Mann litt an einer erblich bedingten Stoffwechselstörung der Leber. Er war der 18. und letzte Patient einer Versuchsreihe, bei der Wilson testen wollte, ob sich mit Adenoviren ein sicherer und wirksamer Gentransfer in die Leber bewerkstelligen ließe.
Wie bei den meisten klinischen Versuchen zur Gentherapie ging es also nicht um Heilung, sondern um Fragen der Sicherheit und Verträglichkeit. Gelsinger, der dank einer Diät und geeigneter Medikamente relativ unbeschwert leben konnte, nahm an dem Versuch nur teil, um dem medizinischen Fortschritt zu dienen. Insgesamt 38 Billionen Partikel wurden ihm binnen zwei Stunden direkt in die Leberarterie infundiert. Die Folge war eine akute, von den Ärzten nicht mehr kontrollierbare Immunreaktion. Nach Gelsingers Tod wurde der Fall untersucht. Es stellte sich heraus, dass James Wilson das Experiment durchgeführt hatte, obwohl bei Gelsinger bestimmte Blutwerte schon vor dem Eingriff deutlich über dem zulässigen Wert lagen. Im Dokument zur Patientenaufklärung, das man dem jungen Mann vorgelegt hatte, fehlte zudem der Hinweis auf zuvor schon tödlich verlaufene Versuche an Affen. Wilson sah sich massiven Vorwürfe ausgesetzt. Nur ein Kollege sprang ihm zur Seite: French Anderson verteidigte ihn wegen "entschuldbarer Fehler" und mahnte an, das große Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. "Tausende sterben jeden Tag, weil die Medizin ihnen nicht helfen kann. In zehn bis 20 Jahren wird die Gentherapie Millionen Menschen helfen."
Dafür spricht wenig - auch wenn es Alternativen zu den gefährlichen Adenoviren als Gentaxis gibt. Laut aktueller Statistik kamen in 24 Prozent aller bisherigen klinischen Versuche gentechnisch aufgemöbelte "Retroviren" zum Einsatz. Es sind die einzigen Viren, die im Laufe der Evolution gelernt haben, sich dauerhaft in den Chromosomen ihrer Wirtszellen einzunisten - im Prinzip ein großer Vorteil für die Gentherapie, denn dadurch kann auch das heilende Gen, mit dem man so ein retrovirales Gentaxi bestückt, bei jeder Zellteilung weitervererbt werden. Die Wirkung bleibt erhalten.
Auch technisch sind Retroviren vergleichsweise einfach zu handhaben. Um daraus einen therapeutisch wirksamen Vektor herzustellen, braucht man nur eines ihrer vier strukturellen Gene durch das jeweils erwünschte menschliche Gen zu ersetzen. Allerdings lässt sich kaum vorhersagen, auf welche Zellen im Körper solche Retrovieren zusteuern werden. Darum wurden retrovirale Transportvehikel bislang bevorzugt außerhalb des menschlichen Körpers, im Rahmen von so genannten "Ex-vivo-Gentherapien", eingesetzt.
Ein gravierender Nachteil besteht außerdem darin, dass Retroviren dazu neigen, sich an beliebigen Stellen in die Chromosomen ihrer Wirtszellen zu integrieren. Im ungünstigen Fall können Fehler bei der Zellteilung bis hin zu Krebserkrankungen die Folge sein - so geschehen bei einem Aufsehen erregenden Experiment französischer Ärzte um Alain Fischer vom Hospital Neckér in Paris, denen zunächst ein echter Durchbruch gelungen war.
Die Patienten waren insgesamt elf Kleinkinder, die an einer lebensgefährlichen Immunschwäche litten - genau wie seinerzeit French Andersons kleine Patientin Ashanti de Silva. Fischer hatte sich fast zehn Jahre vorbereitet, bevor er 1999 die ersten Eingriffe wagte. Er isolierte Blutstammzellen aus dem Knochenmark der Kinder und bestückte sie mit Hilfe eines retroviralen Vektors mit gesunden Genen. Anschließend injizierte er den Kindern die Zellen wieder - in der Hoffnung, dass sie sich teilen und ein funktionsfähiges Immunsystem aufbauen würden.
Das Experiment gelang. Schon nach kurzer Zeit waren erste Immunzellen im Blut fast aller Kinder nachzuweisen. Sie wurden nach Hause entlassen, blieben frei von gefährlichen Infektionen. In anderen Ländern wurden ähnliche Versuche gemacht. Und dann die Ernüchterung. Mehrere Kinder erkrankten an Krebs; mindestens eines ist daran schon gestorben. Ein tragisches Schicksal, das beweist, wie unberechenbar die Retroviren sein können. Dass sie normalerweise nur solche Zellen infizieren, die sich gerade teilen, kommt noch erschwerend hinzu. Abhilfe sollen hier Vektoren auf der Basis von gentechnisch amputierten Aidsviren schaffen - so genannte lentivirale Vektoren. Sie sind mit den Retroviren eng verwandt. Mit Hilfe eines in der Schweiz entwickelten lentiviralen Gentaxis, mit dem sich das Gen für einen Nervenwachstumsfaktor in Nervenzellen übertragen ließ, gelang es US-Forschern zum Beispiel schon, Parkinsonsymptome bei Rhesusaffen zu lindern. Von einer Heilung Parkinsonkranker ist man aber auch hier noch weit entfernt. Und die Gefahr ist keineswegs gebannt, dass beim Einsatz großer Mengen lentiviraler Vektoren auch HIV-ähnliche Virusteile entstehen, die bei Menschen tödliche Infektionen auslösen könnten.
Umso mehr hoffen forschende Gentherapeuten auf harmlosere Helfer. Zu den Kandidaten, die zwar bei klinischen Versuchen erst relativ selten eingesetzt, aber von Fachleuten schon hoch gehandelt werden, gehören Adeno-Assoziierte Viren (AAV). Diese Erreger lösen nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse selber keine Krankheiten aus; sie vermehren sich nur, wenn ein Mensch schon mit einem Adeno- oder Herpesvirus infiziert ist. Neben ihrer Fähigkeit, fremde Gene in eine Vielzahl von Körperzellen einzuschleusen, spricht für die AAV insbesondere, dass das Immunsystem auf sie nicht besonders empfindlich reagiert. Viel versprechend erscheint ihr Einsatz bei einer Gentherapie der Bluterkrankheit (Hämophilie). Diesen Patienten fehlen im Blut aufgrund einer Mutation bestimmte Gerinnungsfaktoren, die normalerweise nach einer Verletzung Blutungen stoppen, indem sie solche Wunden verkleben. Gleich mehrere Firmen versuchen, durch Geninjektionen in die Muskeln die bisher nötigen regelmäßigen Infusionen mit Gerinnungsfaktoren zu ersetzen. Am weitesten gediehen sind Studien, die das Childrens-Hospital in Philadelphia zusammen mit der kalifornischen Biotech-Firma Avigen durchführt. Gegenstand ist eine seltenere Form der Bluterkrankheit (,,Hämophilie B").
In Anbetracht der problematischen Eigenschaften viraler Gentaxis setzen nicht wenige Forscher ihre Hoffnung inzwischen aber auch auf einen Gentransfer mit nichtviralen Vektoren. Manche versuchen, heilende Gene in kleine Fettkügelchen (Liposomen) zu verpacken und darin in Zielzellen schmuggeln. Der Gen-Transfer ist bei dieser Form nicht-viraler Vektoren zwar weitaus weniger effektiv. Dafür dürften aber auch die Nebenwirkungen geringer sein, weil das Immunsystem solche Liposomen leicht übersieht.
Klinisch erprobt wird zudem eine Form von "nackter" DNA, die im Reagenzglas in großen Mengen vermehrt, einfach direkt in den Muskel gespritzt oder mit einer Genkanone - an Goldkügelchen gebunden - unter die Haut geschossen wird, wo sie für den Bau gewünschter Proteine sorgen soll. Mögliche Einsatzgebiete sind Krebserkrankungen, Herzleiden, Allergien. Bei Darm-, Prostata- und Lympdrüsenkarzinomen sowie beim bösartigen Hautkrebs sollen gentherapeutische Impfstoffe auf der Basis "nackter" DNA das körpereigene Immunsystem gegen die Tumorzellen mobilisieren.
Ein wenig krankt die Gentherapie-Szene immer noch an den überzogenen Versprechungen, mit denen Pioniere wie French Anderson seinerzeit angetreten sind. Aber Jesse Gelsingers Tod war auch ein heilsamer Schock. Danach wurden behördliche Kontrollen verschärft. Eines kommt den Gentherapeuten weiterhin zugute: Trotz fehlender Erfolge ist die Akzeptanz für die Gentherapie weiter groß. In Meinungsumfragen spricht sich die große Mehrheit regelmäßig dafür aus, dass man die Chance nutzen solle, Erbkrankheiten zu heilen. Auch Menschen, die der Gentechnik sonst kritisch gegenüberstehen, machen bei der Medizin eine Ausnahme, obwohl sich unter einer "Gentherapie" wohl nur die wenigsten etwas Konkretes vorstellen können. Viele kommen vermutlich gar nicht auf den Gedanken, dass schon das Wort "Gentherapie" täuschen könnte, weil es "Heilung" suggeriert, obwohl es bis heute in den meisten Fällen um Tests im frühen Experimentalstadium geht. "Die heißen alle Therapiestudien", hat es Charles Coutelle, Leiter einer Londoner Arbeitsgruppe, vor Jahren in seltener Offenheit formuliert: "Aber Therapie hat ja nichts mit Behandlung zu tun. Die Patienten sind darüber aufgeklärt, daß es Versuche zur Gentherapie sind."
Nur rund drei Prozent aller offiziell aufgelisteten Gentherapie-Studien befinden sich in "Phase III", also in einem Stadium, in dem man eine mögliche Heilung wenigstens ins Auge fasst. Trotzdem herrscht offenbar kein Mangel an Freiwilligen, die sich als "Versuchskaninchen" zur Verfügung stellen. Häufig dürften sie in solchen Versuchen ihre letzte Chance sehen. Selten spricht man öffentlich davon, dass es sich hier auch um zweifelhafte Menschenversuche handeln kann, wenn nur "terminal kranke", nach ärztlichem Ermessen dem Tod geweihte Patienten, teilnehmen dürfen, bei denen zum Beispiel ein Krebsleiden zu weit fortgeschritten ist, um es noch mit herkömmlichen Mitteln behandeln zu können.
Naiv wäre es schließlich, zu glauben, dass nur uneigennützige Motive die Szene bestimmen. Eine Gentherapie etwa gegen Krebs wäre der Schlüssel zu einem Milliardenmarkt. Unter den namhaften Gentherapeuten findet sich fast keiner mehr, der nicht selber einem Pharmakonzern oder einer Genfirma verpflichtet, daran vielleicht sogar federführend beteiligt wäre. Zeichen setzte auch in dieser Hinsicht French Anderson, der schon 1986 mit einem Finanzmakler die Firma "Genetic Therapy" gründete. Die Studien am "Institute for Human Gene Therapy" (IGHT) in Philadelphia, wo Jesse Gelsinger starb, wurden zu etwa einem Drittel von James Wilsons Unternehmen "Genovo" finanziert.
Doch manche haben sich beim Hype um die Gentherapie auch schon getäuscht. Der Schweizer Pharmariese Novartis zum Beispiel schraubte sein Gentherapie-Programm drastisch zurück, nachdem eine teils in Deutschland durchgeführte Multicenter-Studie zu einer Gentherapie bei bestimmten Hirntumoren Ende der 90er-Jahre mit einer Enttäuschung endete. Echte, auch "monogenetisch" genannte Erbkrankheiten, die sich - wie der "ADA"-Mangel oder die Hämophilie B - auf einen einzigen Gendefekt zurückführen lassen und damit einer Gentherapie am ehesten zugänglich wären, sind unter kommerziellen Gesichtspunkten vollkommen uninteressant: Sie sind viel zu selten, um darauf ein Geschäft gründen zu können - nur bei 8,7 Prozent aller klinischen Versuche nahm man bislang solche monogenetischen Krankheiten überhaupt ins Visier. Den Löwenanteil haben längst "multifaktorielle" Krankheiten wie Krebs (67 Prozent), die zwar lukrativ wären, sich einer einfachen gentherapeutischen "Reparatur" aber schon dadurch entziehen, dass sie von vielen verschiedenen Genen und obendrein auch noch von Umweltfaktoren beeinflusst werden. Denkbar wären erste Erfolge gar nicht bei der Heilung von unheilbar Krebskranken, sondern bei der Verbesserung ihrer Lebensqualität. Seit nunmehr 20 Jahren wird dieses Feld intensiv erforscht. In der Szene setzt man sich zunehmend bescheidenere Ziele. Und so werden die Patienten auf die erste zugelassene Gentherapie wohl noch eine Weile warten müssen.