Die Welt von Tobias Cantz steht unter einer besonderen Maxime: der Wiederholbarkeit. Morgens um spätestens acht Uhr läuft er vier Stockwerke hoch, schaltet den Computer an und hängt die Jacke auf, kurze Zeit später geht es runter ins Zellkultur-Labor, wo seine biologisch-technische Assistentin einiges vorgearbeitet hat. Irgendwann am Abend, nicht immer vor 20 Uhr, schaltet er den Computer aus, nimmt seine Jacke, läuft vier Stockwerke hinunter, steigt aufs Fahrrad und fährt nach Hause. Der 33-jährige Wissenschaftler arbeitet am Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster, und Tag für Tag wiederholt sich der Ablauf. Wissenschaft, so scheint es, muss nicht immer ein Abenteuer sein. Noch vor einigen Jahren arbeitete der Mediziner in Hannover mit so genannten adulten Stammzellen, denen anders als den embryonalen, die Fähigkeit fehlt, sich in nahezu alle Zelltypen entwickeln zu können. Da er das größere Potenzial bei den embryonalen Stammzellen vermutete, wechselte er nach Münster in das Forscher-Team von Hans Schöler. Schöler ist einer der renommiertesten Stammzellforscher weltweit. Im Jahr 2003 gelang ihm in den USA das Kunststück, die biologische Uhr von Stammzellen wie eine Kassette beim Spulen rückwärts laufen zu lassen. Aus den Stammzellen gewann der Forscher Eizellen, was international für großes Aufsehen sorgte, da die Biologie auf den Kopf gestellt zu sein schien. Und genau dies will man in Münster, neben anderen Vorhaben, auch mit menschlichen embryonalen Stammzellen realisieren.
Derzeit arbeiten die Molekularbiologen im Institut zwar erst an embryonalen Stammzellen der Maus. Doch noch in diesem Jahr will Hans Schöler die Arbeit an humanen embryonalen Stammzellen, den so genannten ES-Zellen, aufnehmen. "Ein Amerikaner aus meiner Arbeitsgruppe, der in den USA bereits an humanen embryonalen Stammzellen gearbeitet hat, pisakt mich, wir sollten auch in diese Richtung forschen", sagt Hans Schöler. In Deutschland ist es nicht erlaubt, embryonale Stammzellen herzustellen, aber zu Forschungszwecken dürfen bestimmte Stammzelllinien importiert werden.
Der Labor-Alltag von Tobias Cantz entspricht dem, was der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn einmal als das Wesen normaler Wissenschaft beschrieben hat: beobachten, experimentieren und Rätsel lösen. Rätsel entstehen vor allem dann, wenn die Ergebnisse der Experimente von den Erwartungen abweichen oder jene überhaupt nicht funktioniert haben. Die Forscher arbeiten allesamt auf verschiedenen Gebieten, weshalb ein Konkurrenzverhalten selten bis gar nicht zu bemerken ist. Wenn es doch einmal knirscht oder gar richtige zwischenmenschliche Probleme auftauchen, ist der Chef gefordert. "Dann gibt es Einzelgespräche oder Gruppengespräche, je nach Bedarf", sagt er. Die Sauberkeit ist so etwas wie ein Indikator des Sozialverhaltens. Putzt der eine nicht, muss es der andere verrichten, denn ohne diese Sorgsamkeit sind wissenschaftliche Experimente schnell zum Scheitern verurteilt. "Wer nicht sauber macht, kann direkt eine Schreibtischfunktion erfüllen. Da verstehe ich keinen Spaß, weil es um Sicherheit im Labor geht", so Schöler.
Der wissenschaftliche Alltag ist oft alles andere als spektakulär, und der von Tobias Cantz bildet da keine Ausnahme. Am Vormittag sichtet, bewertet und begutachtet er rund eine Stunde lang verschiedene Zellkulturen, zum Beispiel die Leberzellen, mit denen der Mediziner schon lange arbeitet. Welche Kultur hat sich entwickelt, wie sehen die Leberzellen in der Kultur aus, welches Experiment ist fehlgeschlagen? Das sind die typischen Fragen, die er sich immer wieder stellen muss. Dann beginnt der eigentliche Wissenschaftsalltag. Tobias Cantz löst Zellen erst ab und lässt sie dann wieder ruhen, damit sich die Nährzellen von den begehrten Stammzellen trennen. Es folgen spezielle Analysen, die für seine Arbeit wesentlich sind: Welche Gene sind aktiv, welche Proteine werden gebildet, und wo in den Zellen befinden sich bestimmte Marker? "Im Wesentlichen sind das Methoden der klassischen Molekularbiologie und Biochemie", sagt er. Immer wieder gibt es hierbei Überraschungen, etwa, dass die erwünschten Kulturen in sich zusammengefallen sind. Dann ist Ursachenforschung angesagt. "Das sind Dinge, die wir am Nachmittag in kleiner Runde besprechen." Seine Aufgabe im Labor von Hans Schöler liegt vor allem darin, Modelle für therapeutische Anwendungen in der Forschung an embryonalen Stammzellen zu entwickeln. Sie sind für die Interaktion mit anderen Forschungseinrichtungen wichtig - etwa mit dem Labor des Stammzellforschers Jürgen Hescheler in Köln. Damit kommt ihm eine wichtige Funktion für die "Vernetzung" der Forschung zu.
Moderne Wissenschaft ist ohnehin nicht mehr das Unternehmen einzelner Forscher, sondern ein Gemeinschaftsunternehmen. Wie in Frankensteins Labor geht es in Münster allein schon deshalb nicht zu. "Es geht um die Arbeit im Team", erklärt Tobias Cantz. Und dazu gehören neben Direktor Hans Schöler und Tobias Cantz auch andere Top-Forscher, wie etwa Michele Boiani. Er spielt in dem System quasi einen "Quarterback". Als Boiani seine Arbeitsräume bezog, glückten dem Perfektionisten anfangs allerdings selbst Routinearbeiten nicht, erzählt Tobias Cantz. "Mal war es für die Zellen zu kalt oder für Michele schlicht zu warm." Die Belüftung und Heizung wurden zur großen Variablen seiner Arbeit - auch die banalen Dinge spielen in der Wissenschaft eine Rolle. Aber schließlich fanden Forscher und Forschungsgegenstand doch zusammen und Boiani ging der Aufgabe nach, die er mit am besten beherrscht: Blastozysten von Mäusen zu injizieren. Bis zum Acht-Zell-Stadium verfügen die Zellen über die so genannte Totipotenz. Aus diesem Zellverband entwickelt sich dann die Blastozyste, aus deren innerer Zellmasse am vierten Entwicklungstag die pluripotenten embryonalen Stammzellen für die Forschung gewonnen werden können. Als Experte für Kerntransfers ist er für seine Kollegen ungemein wichtig, denn Blastozysten werden für viele Experimente benötigt.
Die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen ist ethisch höchst umstritten. Es wird als ein ethisches Dilemma empfunden, dass die Forschung einerseits Chancen auf Heilung schwer Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Krebs verspricht, andererseits aber menschliche Embryonen für die Gewinnung von ES-Zellen vernichtet werden. Kritiker der Forschung wie der Philosoph Jürgen Habermas befürchten eine "Verdinglichung des Menschseins". Schölers Team versucht, dem ethischen Dilemma zu entkommen, indem es die Vorkernstadien so behandelt, dass keine menschlichen Embryonen daraus entstehen können. Dieses Verfahren probieren die Forscher derzeit noch am Modell der Maus aus. Will man diese Methode auf humane Zellen übertragen, müssen sich die so gewonnenen Stammzellen dann noch an humanen embryonalen Stammzellen messen lassen. Wenn sie dann tatsächlich die gleichen Eigenschaften besitzen, wären mit solchen Stammzellen viele moralische Hürden für die Forschung gefallen. Mittlerweile sind die Forscher zwar etwas müde, an der immer wiederkehrenden ethischen Diskussion teilzunehmen. Aber die moralischen Bedenken nehmen sie trotzdem ernst, zumal sie gerade im näheren Umfeld wie bei Familie und Freunden nicht als Vorwurf erhoben würden. "Da wir bislang ausschließlich mit Mäusen gearbeitet haben, ist von dieser Seite ohnehin kein Diskussionszündstoff da", sagt Hans Schöler. "Im Gegenteil: Viele Leute befürworten unsere Arbeiten, weil sie das Potenzial der embryonalen Stammzellen sehen."
Gleichzeitig gehört Hans Schöler auch zu jenen Wissenschaftlern, die vor zu hohen Erwartungen warnen. "Eine gute Grundlagenforschung ist das A und O." Trotz des hohen Potenzials der ES-Zellen, könne man einen therapeutischen Nutzen erhoffen, aber nicht mit Sicherheit vorhersagen. So sieht es auch Tobias Cantz. "Es ist sicherlich unverantwortlich, zu hohe Erwartungen zu wecken. Die Forschung hat ein hohes Potenzial, das sich aber in der Grundlagenforschung und im Tiermodell erst einmal bewähren muss." Insofern sei der Skandal um den südkoreanischen Wissenschaftler Hwang Woo Suk vielleicht sogar heilsam, glaubt Schöler. Den Skandal diskutierten natürlich auch die Wissenschaftler im Labor. "Alle waren enttäuscht", erzählt Tobias Cantz. "Vor allem die Koreaner in meiner Arbeitsgruppe haben den Skandal sehr kritisch verfolgt, weil sie stärker als die anderen sehen, was Hwang nicht nur der Wissenschaft, sondern auch seinem Land angetan hat." Aber schon bald sei der Alltag wieder eingekehrt - mit experimentieren, beobachten und dem einen oder anderen Rätsel.