Längst schon nehmen die Akteure jenes "achten Schöpfungstages" gentechnologische Eingriffe an Pflanzen und Tieren vor. Zudem hat die biomedizinische Praxis bereits unsere herkömmlichen Begriffe von Recht und Moral erschüttert, neue normative Standards gesetzt und dabei auch unseren Erwartungshorizont irreversibel verschoben. Welche der historisch gewachsenen und bislang kulturell fest verankerten Normen und Wertehaltungen werden uns angesichts des rasanten Aufschwungs der Biowissenschaften auch künftig noch als Richtschnur des Handelns dienen?
Unsere traditionellen Bezüge zum Leben werden jedenfalls von den modernen Biowissenschaften in beinahe jeder Hinsicht in Frage gestellt: So behaupten Soziobiologen, dass unsere Moral von "egoistischen Genen" gesteuert werde und dass wir lediglich als "Marionetten der Evolution" fungieren. Und Hirnforscher konstatieren, dass der "freie Wille" nichts als eine pure Illusion sei. Das "Ich", die "Moral" oder "Gott" seien lediglich Konstrukte unseres Gehirns, und der eigentliche Religionsstifter der Menschheit sei dementsprechend nur ein genetisch vorprogrammiertes Ensemble von neuronalen Verschaltungen und biochemischen Prozessen.
Zu allem Übel will uns der Gen-Pionier James Watson auch noch weismachen, dass eine zeitgemäße Ethik den Menschen nicht mehr länger als Geschöpf Gottes begreifen könne, sondern allein als Produkt des Genoms. Die Genforschung, so der Nobelpreisträger für Medizin, biete so ungeheure Möglichkeiten, dass es einfach unverantwortlich wäre, das Schicksal der Menschheit länger der unsicheren Gnade Gottes anzuvertrauen, anstatt es in die eigene Hand zu nehmen.
Was mit jener "Ethik des Genoms" genau gemeint ist, dazu haben sich neben Watson noch andere Spitzenforscher unmissverständlich zu Wort gemeldet. Auch für Medizinnobelpreisträger Joshua Lederberg ist das Ziel der Genforschung der perfekte - und wahrscheinlich unsterbliche - Mensch. Lederberg geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Wissenschaft mittels der Gentechnologie "höherwertige" Menschen "lieber direkt kopieren" sollte, als all die Risiken einer normalen Fortpflanzung einzugehen: "Lassen wir die sexuelle Fortpflanzung für experimentelle Zwecke!" Entdeckt man dabei einen geeigneten Menschentyp, "sollte man dafür sorgen, dass er erhalten bleibt, indem er geklont wird".
Auch Äußerungen anderer Wissenschaftler belegen, dass es in der humanbiologischen Forschung zumindest tendenziell stets auch um das "Menschenmachen" geht. So gab etwa Gregory Stock, Biophysiker und Direktor einer Medizinforschungsabteilung der Universität von Kalifornien (Los Angeles) zu Protokoll: "Ich kann mir vorstellen, dass Fortpflanzung auf natürlichem Weg irgendwann als verantwortungslos gilt." Desgleichen meint auch Zev Rosenwaks, Direktor des Medizincollege der Cornell Universität (New York): "Ideal wäre es, wenn man den Embryo vor dem Einpflanzen in eine Maschine stecken könnte, die herausfindet, ob er eine gute Qualität hat." Solche Pläne stoßen glücklicherweise bei den meisten Wissenschaftlern auf strikte Ablehnung. Doch dass jene "Ethik des Genoms" ausgerechnet von einer hochdekorierten Forscherelite formuliert wird - nicht etwa von irgendwelchen Außenseitern oder Wirrköpfen - ist schon ein bemerkenswerter Umstand.
Vor einer pauschalen Dämonisierung der Gentechnologie sollten wir uns dennoch hüten. Zu viele Hoffnungen sind an den biomedizinischen Fortschritt geknüpft. Angesichts der zahllosen Leiden und Gebrechen, für die bislang keinerlei Chance auf Linderung oder gar Heilung besteht, sollten wir zumindest einige der großartigen Möglichkeiten der Gentechnologie verantwortungsvoll nutzen. Ganz ohne Risiken ist dieser Fortschritt nicht zu haben. Wer allerdings die absolute Gesundheit will, der sollte wissen, dass diese nur über den Preis absoluter biologischer Kontrolle und Auslese zu haben ist. Und wer dabei von vornherein den Abbau des Menschlichen einkalkuliert, der sollte sich über erbitterten Widerstand nicht wundern.
Bislang ist es hierzulande dank einer umsichtigen Biopolitik in anerkennenswerter Weise gelungen, Ethik, Recht und Politik auf die unverändert gültigen Werte der Humanität zu verpflichten. Die Frage, ob die Freiheit der Forschung geradewegs zur Selbstabschaffung des Menschen führt, steht dennoch im Zentrum einer leidenschaftlich geführten Debatte. Schließlich wird schon heute den Menschen suggeriert, dass unser Glück und unsere Menschlichkeit identisch sind mit vermeintlich herstellbaren Qualitäten wie gesund, schön und sexuell befriedigt. Auf den gentechnisch "optimierten" Menschen der Zukunft wartet jedenfalls eine gnadenlose Qualitätskontrolle - eine Eugenik à la Watson-Lederberg.
Zu Recht nimmt daher der Menschenwürdebegriff in allen bioethischen und biopolitischen Debatten der Gegenwart eine Schlüsselstellung ein. Doch die Menschenwürde ist inhaltlich keineswegs eindeutig bestimmt. Denkt man etwa an eine embryonale Stammzelle, so ist durchaus nicht von vornherein klar, welche "Wesen" eigentlich noch unter den Schutz der Menschenwürde fallen. Doch kann jene Ethik des Zellenzählens wirklich darüber hinwegtäuschen, dass am Ende jeder Embryonalentwicklung -- sofern man sie denn zulässt - konsequenterweise ein individueller Mensch steht?
Gewiss, mit der bloßen Berufung auf die Grundrechte - insbesondere auf die Menschenwürde - mag auf Dauer kein moralischer Konsens mehr zu erzielen sein. Dass mit der bloßen Berufung auf den medizinischen Fortschritt der Menschenwürde bereits Genüge getan sein wird, ist jedoch ebenso wenig zu erwarten. Das mühsame Vergleichen und Abwägen, welche Optionen es zu verwirklichen gilt und auf welche besser verzichtet werden sollte, wird uns auch künftig nicht erspart bleiben. Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Der Philosoph Volker Gerhardt rät daher zu mehr Gelassenheit in der Diskussion um eine menschenwürdige Zukunft: "So ungeheuer die Herausforderung durch das Neue auch ist: Schlimmer als die Vergangenheit war, kann die Zukunft kaum werden." Dass ist wohl wahr. Doch sollten wir auf neue Durchbrüche an der Fortschrittsfront gefasst sein - und was unsere Humanität angeht, auch mit "feindlichen Übernahmeangeboten" seitens einiger allzu forscher Gen- und Reproduktionsforscher rechnen.
Bislang hat der Gesetzgeber eine Entkoppelung von Menschenwürde und Lebensschutz zu verhindern gewusst. Noch besteht weitgehend Konsens darüber, dass etwa Therapiemodelle unter Einschluss des therapeutischen Klonens nur dann ethisch akzeptabel sind, wenn es gelingt, das reproduktive Klonen international zu ächten. Wie der Fall des koreanischen Klonforschers und Wissenschaftsbetrügers Hwang Woo Suk unlängst zeigte, vermag jedoch schon die bloße (Falsch-)Meldung, dass fernen Orts der erste menschliche Klon erzeugt worden sei, geradezu reflexhaft Rufe nach einer Aufweichung des geltenden Embryonenschutzgesetzes auszulösen - um ja nicht den Anschluss an die internationale Entwicklung zu verpassen. Doch sind wir wirklich auf einen Fortschritt angewiesen, der keinen Unterschied mehr kennt zwischen notwendigem Wertewandel und verhängnisvollem Werteverfall?
Reinhard Lassek ist promovierter Biologe und freier Journalist in Celle.