Da ist ein Salz", ruft Tülay. "Nein, das heißt: Da steht Salz auf dem Tisch", korrigiert Demir, was dem Mädchen mit dem lilafarbenen Kopftuch gar nicht passt. "Halt's Maul", gibt sie ihm zurück. Gemeinsam mit drei weiteren Mitschülern betrachten sie ein Bild, eine Szene in einer Cafeteria. Sie sollen beschreiben, was dort passiert. "Nicht nur aufzählen, sondern bitte ganze Sätze bilden", hatte Gülhan Gögçe gefordert, nachdem zuvor wild einzelne Worte durchs Klassenzimmer gerufen wurden.
Die Pädagogik-Studentin, die mit zehn Jahren aus dem Osten Anatoliens nach Berlin kam, könnte auch Türkisch sprechen. Doch geht es darum, mit den Achtklässlern Deutsch zu üben. Seit November kommt die 26-Jährige zwei Mal in der Woche für zwei Stunden nachmittags zu ihnen. Das Förderunterricht- Projekt der Stiftung Mercator ermöglicht dieses Angebot. An 31 Standorten sind derzeit etwa 950 Studierende als Förderlehrer im Einsatz, meist Lehramtsanwärter. Ihr Gewinn: Abgesehen von den 10 Euro, die ihnen die Stiftung pro Stunde bezahlt, können sie sich im Lehren üben und die Realität mehrsprachiger Schulklassen kennen lernen. Nach einer didaktischen Vorbereitung ergänzen sie das Unterrichtsangebot jener Schulen, die einen hohen Anteil mit Kindern aus Migrantenfamilien aufweisen. Etwa jeder dritte Schüler hat einen solchen Hintergrund, nur jeder zehnte von ihnen erlangt das Abitur. Um die Bildungschancen zu verbessern, so der Ansatz des Projektes, brauchen sie bessere Sprachkenntnisse.
Dass es daran hapert, wundert Demir nicht. "Wir sprechen ja sonst nur Türkisch", sagt der 13-Jährige. Seine Schule, die Eberhard-Klein-Oberschule in Kreuzberg, war im vergangenen Jahr in die Schlagzeilen geraten, nachdem die letzten Kinder deutscher Herkunft nach der 10. Klasse abgegangen waren.
Anders als in diversen Medienberichten, ist das im Kreuzberger Klassenzimmer kein Grund zur Resignation. "Die freuen sich darauf, Deutsch zu reden", sagt Gülhan Gögçe. Die Eltern haben zwar eine Vereinbarung unterschrieben, doch prinzipiell sind die Schüler freiwillig da. Zuweilen wollen mehr Kinder teilnehmen, als für die Kleingruppe zugelassen sind. Und das macht Hoffnung.
Nach einem langen Schultag streiten sich die fünf darum, wer zuerst aus der Geschichte zur Cafeteria-Szene vorlesen darf. "Wir wollen verstehen, was wir lesen", mahnt die Deutsch-Türkin zwischendurch. Also bohrt sie nach. Was ist ein Asylbewerber? Einer, der keinen deutschen Pass hat, wie Belgin vermutet?
Es dauert, bis die Sache geklärt ist. Zum Glück kann sich Gögçe Zeit lassen. Die Schüler schätzen das: "Wir kommen viel öfter dran und werden auch öfter korrigiert als im normalen Unterricht", sagt Algin, ein stilles Mädchen. Ihre Förderlehrerin ist jedes Mal froh, wenn es sich überhaupt zu reden traut. Hin und wieder lässt sie ihre Schützlinge von einem Podest aus sprechen - "damit sie einmal im Mittelpunkt stehen".
Mehr Aufmerksamkeit für jeden Einzelnen, das erkennt auch Claudia Grimaldi als große Chance. Die Leiterin des Mercator-Projektes in Stuttgart hat das schon oft vernommen: Endlich mal jemand, der zuhört und Fragen beantwortet! "Durch die kleinen Gruppen können sich richtige Lern-Teams bilden", beobachtet Grimaldi. Ihre Kollegin Gabriele Kniffka, die seit 2002 an der Uni Köln Förderlehrer betreut, bekommt von den Schulen ähnliche Rückmeldungen. Viele Kinder verbesserten nicht nur ihr Deutsch, sondern auch ihre gesamten Schulleistungen. "Ein paar Schüler haben dadurch auch den Sprung aufs Gymnasium geschafft", sagt Kniffka.
Wie nachhaltig die Erfolge sind, darüber fehlen noch gesicherte Erkenntnisse. Gülhan Gögçe muss oft feststellen, dass nach einer Woche schon wieder vieles verloren ist. "Sie haben keine Orte, wo sie das neu Gelernte anwenden können", meint sie. Und manchmal weiß die Studentin auch nicht, wo sie eigentlich anfangen soll: Bei der Sprache, beim Wortschatz, bei der Grammatik? Allenthalben müsse sie Grundschulwissen vermitteln. "Viele türkische Eltern haben mit ihren Kinder Deutsch geredet", erklärt sich Gögçe das Sprachniveau, "oft schlechtes Deutsch. Das hat mit dazu beigetragen, dass der Nachwuchs nun beides nicht richtig kann." Aber der Förderunterricht beschränkt sich nicht auf den Sprachunterricht. Gögçe achtet insgesamt darauf, dass die Kinder die Schule schaffen. Neulich hat sie Bruchrechnen mit Vierteln nachgeholt - bis es jeder verstanden hat. Hinzu kommen ganz andere Lektionen. Dass man, zum Beispiel, nur mit guten Umgangsformen weiter kommt. Im Sekretariat der Schule hat Gögçe erlebt, wie ein Schüler fragt: "Wann Herr Müller?" Ohne Begrüßung, ohne Erläuterung. Also machte sie eine Übung dazu. Jeder musste vor die Tür, anklopfen und die Frage-Szene nachspielen, mit allem, was dazugehört. "Was die für einen Spaß dabei hatten", erinnert sich die Studentin.
Was sie sagt, nehmen die Kinder ernst. Sie ist ihnen näher, weil sie als Förderlehrerin geduldiger sein kann. Und vor allem ist sie, unter all den deutschen Lehrern, eine von ihnen; jemand, der sie auf Anhieb versteht. "Ich erzähle ihnen öfters von mir", sagt Gögçe, "auch davon, wie hart es für mich war, mit zehn Jahren eine neue Sprache zu lernen. Das motiviert sie." In Köln hat Gabriele Kniffka türkische Schülerinnen erlebt, die "richtig aufblühen, wenn eine türkische Frau im Klassenzimmer steht - eine, die es geschafft hat."
Auch Sibel Akarsu, Studentin der Kunstgeschichte, gehört dazu. Ihre Achtklässler aus dem Berliner Stadtteil Neukölln treibt samstags eher die Langeweile in das Dürer-Gymnasium. "Die meisten Eltern besuchen mit ihren Kindern keine Kulturstätten", umschreibt die 26-Jährige auch ihre eigene Erfahrung. Also arrangierte sie im Rahmen des Förderunterrichts Exkursionen in Museen. Erste Kontakte mit der Berliner Kulturlandschaft, die zumindest für Mahmud folgenreich waren: "Seitdem ziehe ich auch schon mal allein in andere Museen los", sagt der 14-Jährige aus Tunesien.
Heute aber werden die Rollen für das Hörspiel besprochen, das die Gruppe einstudieren soll. Hüssein ziert sich erst etwas, eine weibliche Rolle zu übernehmen. Verführt vom herzlichen Gelächter der Mitschüler, scheint er sich geschlagen zu geben.
Dass in dem Förderunterricht ein sehr respektvoller Umgang herrscht, hatte Sibel Akarsu so nicht gedacht. "Insgesamt hätte ich viel mehr Schimpfwörter erwartet", sagt sie. Allerdings liefen die Deutschübungen nicht immer so gut ab, vor allem wenn sie, wie zumeist, von Frauen geleitet würden. "Gelegentlich werden die jungen Damen nicht für voll genommen", hat Projektkoordinatorin Kniffka in Kölner Schulen erfahren. Manche türkischstämmige Jungen etwa reagierten viel positiver auf Männer, besonders auf solche mit eigener Migrationsgeschichte.
Ob Männer oder Frauen, ist Gülhan Gögçe eher egal. Sie bedauert vielmehr, dass in Berlin bisher nur ein Viertel der Förderlehrerinnen aus Einwandererfamilien kommt. Schülern wie Demir, Tülay und den anderen wären mehr solcher Mittler eine große Hilfe - als Anker in der vertrauten, als Kompass in der noch fremden Welt. Hauptsache aber, das hat die Deutsch-Türkin ihr eigener Weg gelehrt, es kümmert sich jemand. Sie sei in der Schule sehr ehrgeizig gewesen. "Aber ich habe viel profitiert von engagierten Lehrern. Und von den Nachbarn, die mir ihre Hilfe bei den Hausaufgaben angeboten haben. Immer wieder."