Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung - noch heute, bald 61 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, prägt diese Vergangenheit das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland. Viele Konflikte, wie etwa die emotionsgeladene Debatte über das vom Bund der Vertriebenen geforderte "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin, lassen sich nur in diesem historischen Zusammenhang begreifen. Verständigung ist dringend gefragt, doch wie lassen sich Vorurteile und Ängste überwinden? 20 junge Deutsche und Polen haben sich Ende Februar in einem Workshop in Genshagen gemeinsam der Vergangenheit gestellt.
Wojtek Szczypkas Großvater entkam nur um Haaresbreite der Deportation nach Auschwitz. Bei einer Razzia in Lodz hatte ihn die SS zusammen mit anderen Männern gefangen genommen und auf Viehwagen abtransportiert. Nur dem Eingreifen eines befreundeten russischen Arztes verdankte er, dass er nicht auf dem Transport landete, der direkt in die Gaskammern des Konzentrationslagers führte, sondern auf einem Wagen, der ihn und andere Polen als Zwangsarbeiter nach Deutschland brachte. So überlebte er.
Sein Enkel Wojtek studiert heute in Krakau das Fach Internationale Beziehungen. Das deutsch-polnische Verhältnis interessiert den 23-Jährigen besonders. Zusammen mit neun anderen jungen Polen ist er nach Berlin und ins südlich der Hauptstadt gelegene Schloss Genshagen gekommen, um mit gleichaltrigen Deutschen über die unheilvolle Vergangenheit ihrer Heimatländer zu sprechen. "Erinnerung im Dialog" hieß der Workshop, den die Stiftung Genshagen anlässlich des noch bis Mai andauernden Deutsch-Polnischen Jahres organisierte. Es ging um den Austausch von Erinnerungen, um das Gespräch über die dunkelsten Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungen. So wollten die Organisatoren den "Dialog der Gesellschaften" nicht nur zwischen den Wissenschaftlern oder Politikern anstoßen, sondern vor allem zwischen den jungen Leuten. "Wir wollten bewusst Menschen mit unterschiedlichen Berufen oder aus unterschiedlichen Studienrichtungen zusammenbringen", berichtet Anna Hofmann, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Genshagen den Workshop vorbereitet hat. "Denn einer, der als Logistiker arbeitet, diskutiert anders über die Vergangenheit als ein Geschichtsstudent", sagt sie. Er stelle andere Fragen, und das deutlich unverkrampfter.
Fünf Tage lang beschäftigten sich Wojtek und die anderen der 18- bis 26-jährigen Teilnehmer mit dem schwierigen Erbe der deutsch-polnischen Geschichte: In Vorträgen, Lesungen und Filmen wurden die Ursachen heutiger Konflikte thematisiert. Mit Gesprächen und Rollenspielen wollten die jungen Leute auch den Unterschieden individueller und kollektiver Erinnerung in den zwei Nachbarländern auf die Spur kommen. Das Ziel: Sich gemeinsam erinnern, mehr voneinander erfahren. Kurz: Mit den Augen des Anderen sehen.
Für Wojtek ist das der Kern jeder Annäherung: "Wenn wir nicht die Vergangenheit kennen, können wir uns auch in Zukunft nicht besser verstehen", meint er. Die 26-jährige Deutsche Christina Gentzik sieht das ganz ähnlich: Wie dringend sich Deutsche und Polen über ihre Geschichte - und besonders die unterschiedlichen Erinnerungen daran - austauschen müssen, haben ihr besonders die hitzigen Diskussionen über Flucht und Vertreibung gezeigt: "Es schockiert mich, wie leicht diese Themen noch heute instrumentalisiert werden können", sagt sie. "Obwohl wir doch die dritte Generation nach dem Krieg sind, stört diese Geschichte noch immer die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern." Dass Deutsche und Polen einander oft mit Ressentiments begegnen, Empfindlichkeiten und Emotionen politische Debatten bestimmen, liegt nach Wojteks Ansicht oft an fehlendem Interesse dem Anderen und seiner Vergangenheit gegenüber. "Polen empfinden es als kränkend, wenn Deutsche sich nicht ein bisschen mit der polnischen Geschichte auskennen - wenn beispielsweise der Aufstand im Warschauer Ghetto mit dem Warschauer Aufstand verwechselt wird." Während der Ghettoaufstand vom 19. April 1943 das letzte Aufbäumen der im Ghetto lebenden Juden gegen die Deportation durch die SS war, meint der Warschauer Aufstand das 64-tägige Aufbegehren verschiedener polnischer Widerstandsgruppen gegen die deutschen Besatzer. Der Aufstand begann am 1. August 1944. Bis heute ist dieser Tag ein wichtiges Datum in der kollektiven Erinnerung der Polen an Krieg und Widerstand.
"Für uns ist die Vergangenheit eben etwas, das unsere Identität bestimmt", erklärt Wojtek. "Wir fühlen uns unserer Geschichte sehr verbunden. Aber wir betrachten sie moralisch, fragen nach Schuld und Verantwortung. Für Deutsche ist das wohl eher eine politische Frage", vermutet er.
Ist das einer der Hauptunterschiede zwischen Deutschland und Polen im Umgang mit der Geschichte? Christina, die in Koblenz aufgewachsen ist und zurzeit in Krakau den einjährigen Masterstudiengang "Europäische Studien" absolviert, ist der Meinung, dass der Ausgangspunkt, von dem Deutsche und Polen ihre Geschichte betrachten, ein völlig anderer ist: "In Polen ist Geschichte eher Opfergeschichte, in Deutschland Tätergeschichte." Deutsche würden sich auch mit ihrer Geschichte identifizieren, nur sei das für sie wesentlich schwieriger, weil die Vergangenheit eben hochproblematisch sei. "Für den Dialog bedeutet das aber, dass sie auf unterschiedlicher Ebene über die Geschichte sprechen."
Es sind solche Differenzen, die Vorurteile und Ängste lebendig halten - und die von der Politik schon instrumentalisiert wurden: "Die kommunistische Propaganda hat früher regelmäßig zu nationalistischen Parolen gegriffen und antideutsche Klischees bemüht, um die Bevölkerung hinter sich zu bringen", weiß Wojtek. "Heute verzichtet die Regierung dagegen auf antideutsche Propaganda, wenngleich einzelne Parteien und Politiker sie immer noch zu nutzen versuchen."
Der Schlüssel zur Annäherung und Verständigung ist deshalb für Wojtek Interesse und Offenheit für das Nachbarland und seine Bewohner. Sein Opa könnte für eine solche Haltung ein Vorbild sein: Der alte Mann lebt heute in Deutschland. Mit seinem Schick-sal hat er sich arrangiert - mehr noch: Er hat vergeben.