Die Freude über eine gewonnene Bundestagswahl währt für die Regierungsparteien in der Regel selten lang. Die Unterschriften unter die Koalitionsverträge sind kaum trocken, da wird erneut in mindestens einem der 16 Bundesländer an die Wahlurne gerufen. Und das verheißt für die Parteien der Regierungskoalition in aller Regel nichts Gutes, denn Landtagswahlen wurden schon immer von den Wählern zur Artikulation von Unzufriedenheit mit der aktuellen Bundespolitik genutzt.
Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den vergangenen sieben Jahren. Die SPD schlitterte von einem Wahldebakel zum anderen, so dass von den 1998 regierenden elf sozialdemokratischen Ministerpräsidenten bis 2005 gleich sieben ihren Hut nehmen mussten: angefangen von Hans Eichel in Hessen über Siegmar Gabriel in Niedersachsen bis hin zu Peer Steinbrück in Nordrhein-Westfalen.
Die Folgen der permanenten Wahlkämpfe in den Ländern nehmen seit jeher einen Schlüsselplatz in der langen Liste der Kritikpunkte am deutschen Föderalismus ein. Schon im Vorfeld von Landtagswahlen, so die Diagnose, bremst der Wahlkampf die Regierung aus. Um einen Machtverlust in den Ländern zu verhindern, scheut die Regierung in zeitlicher Nähe von Landtagswahlen vor unpopulären Maßnahmen zurück. Da normalerweise im vereinigten Deutschland kaum ein Jahr ohne Landtagswahlen vergeht, führe das zur allgemeinen politischen Paralyse. Doch nicht nur indirekt entfaltet sich die lähmende Wirkung des Dauerwahlkampfes auf die Bundespolitik. Die anscheinend unvermeidlichen Verluste der Regierungsparteien in Landtagswahlen addieren sich über kurz oder lang zum Verlust der Regierungsmehrheit im Bundesrat. Und ein oppositionsdominierter Bundesrat wiederum, so die Kritiker, produziere dann ganz direkt systematische Reformblockaden oder lasse bestenfalls verspätete und marginale Änderungen am Status quo zu, mit denen den Problemen in Deutschland nicht wirklich beizukommen sei. Die Blockadeanfälligkeit des föderalen Systems der Bundesrepublik habe damit ein gehöriges Maß Mitschuld an der beklagenswerten deutschen Reformunfähigkeit.
Man könnte meinen, dass diese Diagnose, so treffend sie für die Vergangenheit scheint, zumindest für die Regierungszeit der Großen Koalition nicht zutrifft. Eine Bundesratsmehrheit, zumindest unterhalb der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit, scheint längerfristig gesichert. Und selbst wenn die Regierung stetig an Popularität verlieren sollte, können lediglich die kleineren Parteien von dieser Unzufriedenheit profitieren. Da es unwahrscheinlich ist, dass die großen Volksparteien sich in den Landtagswahlkämpfen alleine darauf verlegen, sich wechselseitig ein ,Versagen im Bund' vorzuwerfen, bestünde die Chance, dass Landtagswahlen wieder eher von landespolitischen Themen dominiert werden. Dies wäre sicherlich auch aus Erwägungen demokratischer Legitimität zu wünschen, würden doch Landespolitiker dann nicht mehr im gleichen Ausmaß wie bislang für Entwicklungen abgestraft oder belohnt, die sie nicht unmittelbar zu verantworten haben.
Für so viel Optimismus besteht jedoch leider nur geringer Anlass. Im trotz Föderalismusreform weiterhin politisch stark verflochten bleibenden System steht vielmehr zu befürchten, dass die ständigen Landtagswahlkämpfe auch unter einer Großen Koalition einen lähmenden Einfluss auf die Regierungspolitik im Bund ausüben. Natürlich wird man seltener spektakuläre Instrumentalisierungen der Bundespolitik für den Landeswahlkampf erleben - wie etwa die Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, mit der Roland Koch 1999 die Wahl in Hessen gewann. Auch wird man sicherlich seltener Zeuge von politischen Showdowns im Bundesrat - wie bei der Entscheidung zur Steuerreform im Sommer 2001 oder bei der scharfen Konfrontation zwischen CDU/CSU und SPD anlässlich des Zuwanderungsgesetzes im März 2002. Doch an der Tatsache, dass zahlreiche Landtagswahlen innerhalb einer Legislaturperiode in der Bundespolitik den politischen Reformwillen lähmen werden, ändert sich auch in Zukunft grundsätzlich nichts.
Allerdings werden die Mechanismen subtiler. Zwei Effekte stehen dabei im Zentrum. Zum einen zeichnet sich bereits jetzt ab, dass beide Regierungsparteien unterschiedlich stark von Popularitätsverlusten betroffen sind. So war es auch unter den Vorgängerkoalitionen. Während der Kanzlerschaft Helmut Kohls verlor die FDP in Landtagswahlen oft stärker als die CDU. Die SPD traf es deutlich härter als die Grünen unter der Regierung Schröder. Auch momentan scheint der Reformkurs eher die traditionelle Klientel der Sozialdemokraten zu verschrecken. Trotz Großer Koalition stehen beide Parteien also weiterhin in Konkurrenz, insbesondere natürlich auf Kommunal- und Landesebene. Die Partei, die stärker damit rechnen muss, in den Ländern für eine unpopuläre Bundespolitik abgestraft zu werden, wandelt sich innerhalb der Koalition schnell zum Bremser oder - wie es im politikwissenschaftlichem Jargon heißt - zum ,Veto-Spieler'. Um einen Stimmen- oder gar Machtverlust in den Ländern zu verhindern, muss sie immer wieder Nachbesserungen fordern und durchsetzen.
Damit sind interne Konflikte in der Großen Koalition programmiert. Daneben bleibt natürlich immer noch die Angst beider Parteien vor einer Abstrafung in Landtagswahlen bestehen. Die Führung beider Parteien will parteiinterne Querelen aufgrund schlechter Wahlergebnisse in den Ländern tunlichst vermeiden. Damit steht zu befürchten, dass die Aussichten auf notwendige, wenn auch unpopuläre Politikentscheidungen vor wichtigen Landtagswahlen schwindet. Auch einer Großen Koalition im Bund wird nicht die Zeit gegeben, Grausamkeiten zu Beginn der Legislaturperiode zu exekutieren, um nach vier Jahren auf den Reformertrag zu hoffen. Aus dieser Perspektive betrachtet, mag es nicht wundern, dass ein 25 Milliarden Euro teures Investitionsprogramm in einem Jahr mit fünf Landtagswahlen geschnürt wird, die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer aber für ein Jahr mit lediglich einer Landtagswahl vorgesehen ist.