Das Parlament: Frau Noll, am 13. März fand im Bundestag der erste Kindertag dieses Jahres statt. Warum veranstaltet der Bundestag einen Kindertag?
Michaela Noll: Die Kinder erleben den Bundestag an so einem Tag nicht als abstrakte Institution, sondern als konkreten Ort mit Menschen, die etwas verändern wollen - als ein offenes, transparentes Haus. Auf diese Art kann Politik früh Schwellen-ängste gegenüber Politik und politischen Institutionen abbauen. Immerhin waren mehr als 1.300 Kinder da. Die jüngsten waren im Kindergartenalter, die ältesten waren etwa zwölf. Alle Kinder waren sehr wissbegierig.
Das Parlament: Wer informiert die Kinder am Kindertag?
Michaela Noll: Vor allem der Besucherdienst, der spezielle Kinderführungen anbietet. Außerdem haben die Abgeordneten von der Kinderkommission Fragen beantwortet und den Kindern unsere Arbeit erklärt.
Das Parlament: Wie erklären Sie denn einem neunjährigen Kind, was der Bundestag ist und was er macht?
Michaela Noll: Tja, einfach ist das nicht. Ich versuche es mit Beispielen. Der so genannte Bullenfänger an Geländewägen ist so eins. Durch den Bullenfänger sind viele Kinder bei Unfällen tödlich verletzt worden, weil das Stahlgerüst am Auto in Kopfhöhe der Kinder hängt. Der frühere FDP-Kollege Klaus Haupt hat sich sehr eingesetzt und durch Gesetzesinitiativen erreicht, dass ab 2007 Bullenfänger bei Neuwagen aus Gummi sein werden. Dadurch verringert sich die Verletzungsgefahr. Das ist ein Beispiel, das Kinder verstehen können. So kann man das Interesse der Kinder für politisches Engagement wecken.
Das Parlament: Was wollten die Kinder von Ihnen wissen?
Michaela Noll: Die Kinder waren eher verwundert über unser Interesse an ihnen: Warum macht ihr überhaupt etwas für uns Kinder? Dann erzählten sie, dass sie oft schlecht behandelt werden würden, dass ihnen ständig vermittelt werde, überall zu stören. Wenn sie irgendwo spielen, würden sie angemeckert und beschimpft werden. Und in der Tat: Wir haben in der Kinderkommission Briefe von Schülern aus der Berliner Umgebung bekommen, die darin beschreiben, dass sie während ihres Lotsendienstes permanent von Autofahrern von der Straße weg gehupt und angepöbelt werden würden. Andere Kinder fragten nach ganz konkreten Hilfestellungen. Ein Mädchen beispielsweise klagte darüber, dass die Sportstunden an ihrer Schule ständig ausfielen. Und fragte: Können Sie da etwas machen?
Das Parlament: Und, werden Sie etwas tun?
Michaela Noll: Ja, das werde ich. Ich habe mir in der Kinderkommission drei Themen gesetzt: Kinder und Medien, Kinder und Gewalt, Kinder und Sport. Letzteres habe ich deshalb ausgewählt, weil es wegen der Fußball-WM derzeit eine große öffentliche Aufmerksamkeit für den Sport gibt. Jenseits der körperlichen Fitness, die wichtig ist, kann Sport ein Therapieansatz, zum Beispiel bei motorischen Störungen, sein. Aber vor allem ist Sport für mich das geeignetste Mittel, um Integration zu schaffen. In den Sportvereinen wird viel gute Arbeit geleistet. Dort überwinden Kinder Sprachbarrieren, schließen Freundschaften. Der Unterschied ist: Die Überschrift heißt eben nicht, jetzt findet hier eine Integrationsmaßnahme statt, sondern Integration passiert einfach, nämlich über Spaß und Spiel. Und die Kinder haben ein gemeinsames Ziel, das zusammen schweißt: Sie wollen gewinnen.
Das Parlament: Was wollen Sie als Kommission zum Thema Sport machen?
Michaela Noll: Jeder fragt sich auch nach den Unruhen in den Banlieus in Frankreich: Kann das auch bei uns passieren? Was ist bei der Integration in Deutschland schief gelaufen? Haben wir auch eine Ghettobildung? Über Fußball kann man zeigen, wie Integration gelingen kann. Fußball spielen viele Nationen, und der Sport wird heiß geliebt. Die Kommission begleitet den Gedanken "Sport als Integration" mit zwei Veranstaltungen. Am 31. Mai werden wir einen kleinen Kindersportgipfel in Berlin im Bundestag organisieren, bei dem wir Kinder aus 32 Nationalitäten mit einem Leistungssportler zusammen bringen wollen. Theo Zwanziger, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, hat ebenfalls zugesagt. Das Signal soll sein: In Deutschland leben viele Nationalitäten, die hier ihre Heimat gefunden haben und gut miteinander klar kommen. Am 21. Juni machen wir eine große Veranstaltung in der Bundestagarena zum Thema "Kinder und Bewegung".
Das Parlament: Warum ist das Thema Integration für Sie wichtig?
Michaela Noll: Weil ich aus Mettmann, einer Region in Nordrhein-Westfalen, komme. Dort lebt ein hoher Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. In Erkrath besipielsweise, beträgt der Anteil 60 Prozent. Und die Zahlen steigen. Nach den derzeitigen Berechnungen werden in Nordrhein-Westfalen in zehn Jahren 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Wir müssen uns alle fragen, wie kann Integration gelingen? Hinzu kommt, dass ich selbst einen Migrationshintergrund habe. Mein Vater ist Iraner, meine Mutter Deutsche. Für mich ist klar: Über Bildung werden Türen geöffnet und Türen geschlossen. Die Weichen sollte man rechtzeitig stellen, nämlich bei den Kindern. Wir haben mittlerweile 40 Prozent Hauptschüler, die keinen Abschluss schaffen. Viele davon sind Ausländerkinder. Da wächst ein mächtiges Frustpotenzial heran.
Das Parlament: Sind Sie dann auch für verpflichtende Deutschkurse für Migranten?
Michaela Noll: Ja, denn der Appell an die Freiwilligkeit hat nicht genutzt. Und nur wenn man die Sprache beherrscht, kann Integration funktionieren. Und auch hier gilt: Gerade die Kinder müssen an den Kursen teilnehmen.
Das Parlament: Sie haben drei Kinder. Haben die ausländische Freunde?
Michaela Noll: Ja klar. Der eine Freund meines Sohns kommt beispielsweise aus Ghana. Und in seinem Fußballverein spielen Jungs aus den verschiedensten Ländern. Die Kinder gehen bei uns ein und aus. Eine meiner Schwestern ist mit einem Australier verheiratet, eine andere mit einem Franzosen. Diese Diskussion, wo wer herkommt und dass die Herkunft an sich ein Problem ist, das gibt es bei uns in der Familie nicht. Ohnehin sind Kinder gegenüber anderen Kindern sehr offen. Die Vorbehalte, die es gegenüber Migrantenkindern gibt, werden nicht zuletzt meist von den Erwachsenen geschürt.
Das Parlament: Waren beim Kindertag viele Kinder mit Migrationshintergrund? Kamen die Kinder aus allen sozialen Schichten?
Michaela Noll: Ja, mein Eindruck war, dass viele einen Migrationshintergrund hatten. Es gab einige Kinder, die kamen aus Neukölln, einem der sozialen Brennpunkte der Stadt mit einem hohen Anteil türkischstämmiger Kinder. Es waren genauso Schüler von Gymnasien wie auch von Hauptschulen dabei. Aber - und das ist das Entscheidende - alle Kinder waren interessiert.
Das Parlament: Wenn Sie sich den Tag vergegenwärtigen, was haben Sie am Kindertag gelernt?
Michaela Noll: Dass Politik zu machen, etwas für die Menschen im Land zu bewegen, letztlich nur funktioniert, wenn Politik transparent ist. Die Kinder hatten das Gefühl, da sind Abgeordnete, die nehmen sich Zeit, die nehmen uns ernst, die setzen sich ein. Und dafür sind solche Tage ungeheuer wichtig.
Das Interview führte Annette Rollmann